Bauers Depeschen


Dienstag, 14. Juni 2011, 742. Depesche



DER NECKAR-AUSFLUG

JETZT IM NETZ: DAS INTERVIEW zum FLANEURSALON IM FLUSS AM 29. JUNI

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SEHR EMPFEHLENSWERT: RAILOMOTIVE



Flaneur & Müßiggänger:

JOHN SILVER - mit dem SOUNDTRACK DES TAGES

Fünfunddreißig Grad im Schatten wären für mich im August 2010 nicht der einzige Grund gewesen, den Löffel abzugeben. Doch weil es wenig Stil hätte, im Stuttgarter Kessel tot über dem Bauzaun zu hängen, tue ich das eine oder andere fürs Überleben. Das Rosensteinmuseum hatte ich am Morgen schon dreimal zu Fuß umkurvt, als ich zwischen den Bäumen das Glitzern sah. Da unten, sagte ich mir, wartet ein Herr mit dem silbernen Tablett auf dich. Das trieb mich vorwärts und mir die Reste meiner Sommergrippe aus dem Leib.

Der Herr im Tal, ich nannte ihn spontan John Silver, war der Neckar. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihn sehe. Es ist nicht angesagt in der Stadt, sich an Dingen zu erfreuen, die schon lange sind, wie sie sind.

Der normale Mensch geilt sich an einem Betonkasten im Brachland hinterm Hauptbahnhof auf, den man mit "Library" beschriftet hat. Das heißt zu Deutsch Bücherei, und das weiß ich, weil ich ein iPhone besitze. Das alles garantiert Weltanschluss von der Art, wie ihn Stuttgarter Politiker herstellen, wenn sie ihren Friedhöfe der Fantasie Namen wie "Pariser Höfe" oder "Mailänder Platz" geben.

Nach meiner Schlossgarten-Tour stellte ich auf meinem Sofa fest, dass es richtig ist, zu Erscheinungen wie dem Neckar eine intime John-Silver-Beziehung aufzubauen. Im Hamburger "Spiegel" las ich an diesem Tag eine sehr schöne Titelgeschichte mit den Schlagzeilen: "Ich bin dann mal off - Über die Kunst des Müßiggangs im digitalen Zeitalter".

Man muss der Autorin Susanne Beyer danken, dass sie im Kampf gegen die sterbende Muße (mit Esszett) und deren Kinder diese mühevolle Arbeit geleistet hat. Muße, schreibt sie, schrecke Hochleistungsmenschen, "doch Muße ist - folgt man den Definitionen der Denker - etwas völlig anderes als Faulenzen". Muße bedeute nicht Langeweile und Abwesenheit von Interesse, sondern sich "in aller Ruhe und zweckfrei" dem hinzugeben, was Freude macht. Diese Sätze sind Wasser auf meiner Mühle, so wahr wie die Elbe der John Silver von Hamburg ist.

Der Spaziergänger ist der Sohn der Muße; man nennt ihn auch Flaneur.

Es gibt viele Definitionen für den Flaneur. Man nennt ihn Müßiggänger, Herumtreiber, Eckensteher, Penner. All diese Berufe genießen bei uns kein besonders hohes Ansehen, denn das Zeitalter des iPhones, schreibt Frau Beyer, das "Leben im Stand-by-Modus", lässt keine Muße zu. Das Internet-Spielzeug übt einen "perfiden Sog" aus, der dazu führt, "dass die Nutzer tiefer und tiefer in die digitale Welt hineingeraten, in der es alles gibt, nur keine Muße". (Und deshalb auch keinen Schatz, der zwischen den Bäumen des Rosensteinparks glänzt.)

Auch unsereins ist, bis auf die Augenblicke an John Silvers Bett, ein Opfer des Taschenspielertelefons. Einer, der in immer kürzeren Abständen E-Mails abruft, weil er wissen will, ob die Welt ihn schon verlassen hat. Hätte ich nur ein einziges Mal Muße, würde ich in Ruhe und zweckfrei ein Neckarboot entern und der verdammten Google-Welt den Stinkefinger zeigen.

Oft kritisieren die Kollegen und Freunde mein "schönes Leben". Wie eine Politesse in der Stadt herumzustiefeln, ohne Sinn und Verstand, bis eine Sünderin im Halteverbot auf mich wartet und sagt: "Guten Morgen, Bauer, ich heiße Geschichte. Schreib mich auf."

Für eine Politesse gehalten zu werden, wäre ein Fliegenschiss. Der Schriftsteller Franz Hessel, ein großer Berliner Flaneur, schreibt in seinem Text "Der Verdächtige":

"Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung . . . Ich bekomme immer misstrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb."

Hundertmal könnte ich meinen Nörglern erklären, es sei tausendmal leichter, die Welt einhändig zu umsegeln, als in tausend Stuttgarter Streunerjahren eine ehrbare Geschichte an Land zu ziehen. Diese Ignoranten würden weiter behaupten, richtige Arbeit finde nur am Mobiltelefon und am Bildschirm statt.

Leider tauge ich nicht zum Taschendieb. Die linke Hand des Teufels steckt ständig in der eigenen Tasche. Sie muss prüfen, ob mich die Welt bereits verlassen hat. Und einen Mann, den nur noch interessiert, ob in seiner Hose das Telefon vibriert, küsst auch keine Muse – mit rundem S wie Señora.



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