Bauers Depeschen


Montag, 15. November 2021, 2289. Depesche



 



FLANEURSALON LIVE:

ES GIBT NOCH KARTEN

Liebe Leserin, lieber Leser, ich würde mich freuen, wenn da noch was ginge: Am Sonntag, 28. November, sind wir auf auf der Kulturinsel in Cannstatt. Eine kleine Hommage an diesen in Stuttgart einzigartigen Ort der Begegnung, der erhalten werden muss. Die Lieder- und Geschichtenshow mit Jess Jochimsen, Stefan Hiss, Eva Leticia & Dany Labana Martínez. Beginn 19 Uhr. Karten: KULTURINSEL



DIE NACHT DER LIEDER

ZUGUNSTEN DER KÜNSTLER*INNENSOFORTHILFE

Die 20. Beneziz-Show seit 2001 in der Reihe "Die Nacht der Lieder" findet nach der Pandemiepause im vergangenen Jahr am Dienstag, 7. Dezember, und am Mittwoch, 8. Dezember, im Theaterhaus statt. Noch gibt es Karten - und alle Einnahmen kommen in diesem Jahr unserer KÜNSTLER*INNENSOFORTHILFE STUTTGART zugute. Hier gibt’s die Tickets für den guten Zweck: KARTEN THEATERHAUS Auch telefonisch: 0711/4020720



BÜRGERPREIS

Die Stuttgarter Bürgerstiftung hat am Mittwoch vergangener Woche bei einer Gala im Porsche-Museum zum zehnten Mal den Bürgerpreis in verschiedenen Kategorien an ehrenamtliche Initiativen verliehen. Unsere Künstler*innensoforthilfe Stuttgart erhielt den erstmals vergebenen Sonderpreis; er ist mit 2000 Euro dotiert und kommt Menschen in der Kunst- und Kulturarbeit zugute. Wir sagen herzlichen Dank. - Unsere Initiative befindet sich jetzt nach 20 Monaten mangels weiterer Spenden in der Endphase. Bisher haben wir rund 1,35 Millionen Euro an Menschen in der Kunst- und Kulturarbeit weitergeleitet. Hier alle Infos: KÜNSTLER*INNENSOFORTHILFE STUTTGART



Zum 75-JÄHRIGEN BESTEHEN der Stuttgarter Nachrichten ist am 12. November eine Beilage erschienen, für die ich diesen Text beigesteuert habe:

KOLUMNE: ZU FUß

Als ich 1976 zu den Stuttgarter Nachrichten kam, beurteilten man in meinen Kreisen eine Stadt vorzugsweise nach ihren Kneipen. Für die kulturellen und politischen Aufgeregtheiten der sechziger Jahre waren wir zu jung gewesen, also musste in den Siebzigern reichlich Rock 'n' Roll auf allen Ebenen nachgeholt werden, und da sah es in Stuttgart ziemlich düster aus. Fast alle der wenigen brauchbaren Theken mussten unter der Woche um Mitternacht schließen, und der Begriff „alternative Kultur“ hatte im Kessel kaum Spuren hinterlassen. Unsere Subkultur war zwangsläufig die Altstadt, da gab es ein Leben in der Nacht, mit etwas Fantasie sogar ein lebensgefährliches.


Der prägende Sound dieser Stadt war außerhalb des Rotlichtviertels der Zapfenstreich. Ich hatte noch keinen geschulten Blick für die Dinge, die sich vor meiner Haustür abspielten. Der Slogan „Recht auf Stadt“, den 1968 der französische Philosoph und intellektuelle Kopf der Studentenunruhen Henri Levebvre ausgerufen hatte, war mir noch nicht geläufig. Und Stuttgart an sich ein fremdes Wesen, oft suspekt wie der Ministerpräsident, ein ehemaliger Nazi namens Hans Filbinger. Auf die naheliegende Idee, mir die kleine Welt da draußen zu Fuß zu erschließen, kam ich nicht. Wichtiger war, eine Karre zu haben. Ein Fluchtfahrzeug.


Es dauerte ein paar Jahre, bis mir auffiel, dass sich in vielen Tageszeitungen zu wenig die eigene Stadt spiegelte. Das war nicht nur ein Stuttgarter Problem, auch in wirklichen Großstädten wie Berlin und Hamburg waren Berlin und Hamburg gar nicht da, wenn ich die Zeitungen las. Das Interesse der Redaktionen galt weniger den Menschen und dem Leben in der Stadt als der Bürokratie und dem Polizeibericht.


In den Zeitungen entdeckte ich zu wenig Alltag. Im Alltäglichen verbirgt sich bei näherem Hinsehen das Ungewöhnliche. Das Papiergeraschel des Blatts in meinen Fingern ist für mich auch heute noch der Soundtrack der Neugier. Und dazu gehört die Frage: Wem gehört die Stadt? Sicher nicht dem Oberbürgermeister, dem Gemeinderat und den Geschäftemachern.


Seit jeher mochte ich Zeitungen. Früher stöberte ich fast täglich in den Kiosken, vor allem im einst sehr gut bestücken Bahnhof.


Es kam, wie es die Neugier wollte: Die Hälfte der 42 Jahre, die ich bei den Stuttgarter Nachrichten angestellt war, war ich als Spaziergänger unterwegs. Da du fürs Spazierengehen aber nur als VfB-Profi bezahlt wirst, musste ich meinen kurzen Fußreisen etwas Berichtenswertes abzugewinnen. Bei dieser Arbeit überließ ich das Meiste solange dem Zufall, bis ich einen Riecher dafür entwickelte, wo beim Herumgehen eine Geschichte in der Luft liegt.


Eine aufregende Sache, wenn ich nach einer kleinen Tour in einem Buch nachschaue, was der Name Ferdinand Hanauer auf einem Straßenschild im Cannstatter Stadtteil Muckensturm bedeuten – und wenig später auf einen Nachfahren namens Nick Hanauer stoße, der als Milliardär in den USA mit seinen superreichen Kollegen ins Gericht geht, weil diese Schnorrer keine Steuern zahlen. Bis heute verfolge ich seine Einwürfe auf Facebook, wo er als „stolzer Kapitalist“ vor den feudalistischen Auswüchsen des Kapitalismus warnt. Sein Großvater Ferdinand Hanauer war ein jüdischer Bettkissenfabrikant in Cannstatt, der mit seiner Familie vor den Nazis in die USA fliehen musste und in Seattle ein neues Unternehmen aufbaute.


Dieses Beispiel zeigt, wie schnell die Beschäftigung mit der Vergangenheit in die Gegenwart führt. Das ist die wichtigste Erfahrung meiner jahrzehntelangen Stadtspaziergänge: Geschichte ist, wie es uns große Literaten lehrten, nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Wie sehr das Heute an das Gestern erinnert, wird viel zu oft vergessen in unserer sogenannten Erinnerungskultur.


Geschichte ist im Wortsinn spannend, sie erklärt uns den Zustand der Stadt. Und du brauchst Galgenhumor angesichts des Umgangs der Stadt mit ihrer Geschichte. Kleines Beispiel: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Stuttgarts ältestes Haus abgerissen, um vier (4) Parkplätzen Platz zu schaffen. An dieser Barbarei hat sich bis heute nichts geändert. Das ehemalige Metropol-Gebäude, ein Kulturdenkmal ersten Ranges, das unzählige großartige Geschichten erzählt, soll demnächst in eine Kletterhalle umgebaut werden. Man könnte die Wand hochgehen. Das gilt auch für den Bahnhof: Um im zerstörten Bonatz-Bau deinen Zug nach München zu finden, musst du heute so viele Umwege zurücklegen, dass du schneller zu Fuß nach Ulm gehen könntest.


Als Stadtspaziergänger hatte und habe ich allerdings nicht die Absicht, ständig in den politischen Sumpf zu treten. Er trocknet halt nie aus. Viel besser fühle ich mich als Hanns Guck-in-die-Luft, die Nase im Wind, wenn ich durch die Straßen gehe. Es gibt keinen anderen Weg, sich einer Stadt zu nähern, als zu Fuß in sie hineinzugehen. Das macht keineswegs betriebsblind, denn viele Wege der Stadt führen aus ihr hinaus.
Wer weiß schon, wenn er von der Reinsburgstraße die Fritz-Wisten-Staffel hinuntergeht, dass diese Treppe einem großen jüdischen Schauspieler gewidmet ist, der 1933 aus dem Stuttgarter Landestheater gejagt wurde? Und später als wegweisender Bühnenintendant in Berlin Karriere machte. Erst recht habe ich gestaunt, als neulich der deutsche Hollywood-Star Armin Mueller-Stahl in einem Dokumentarfilm auf Arte erzählte, der wichtigste Mentor seiner Laufbahn sei Fritz Wisten gewesen. Überall in der Stadt erzählen Straßen, Häuser und Plätze ganze Romane. Wenn ich im Süden der Stadt auf dem Erwin-Schoettle-Platz lande, denke ich daran, dass der Genosse Erwin einst nicht nur ein aufmüpfiger Sozialdemokrat und im Widerstand war, sondern später auch Herausgeber der Stuttgarter Nachrichten. Auch von seiner sozial sehr engagierten Frau Helene gäbe es einiges zu erzählen, am besten mit großer Ehrfurcht vor ihrer nicht ungefährlichen Energie.


Schärft man den Blick für solche Dinge, erscheint einem selbst ein langweiliger Kessel viel lebendiger, interessanter und liebenswerter als auf den Klischee-Plattformen des Tourismus-Geschäfts. Die wahren Sehenswürdigkeiten entdeckt man nicht mit Google-Maps. Erregender ist es, offenen Auges Beinarbeit zu leisten. Ich schließe wieder mit meinem Mantra: Lieber zu weit gehen als gar nicht.



AUS DEM LEBEN

Mitte November 2021, eine kurze Bilanz. Dieses Jahr war mein deprimierendstes, mein traurigstes seit langer Zeit. Trennung, erzwungener Umzug im auch wettermäßig miesen Lockdown-März. Keine Kneipe, kein Café geöffnet in der neuen Umgebung, und obwohl ich dank wahrer Freunde unbeschreibliches Glück mit meiner neuen Wohnung hatte, kam ich mir wochenlang vor, als ginge ich irgendwo in ein Hotel, vielleicht in Dortmund oder so.

Die Dinge haben sich geändert, und ich hab versucht, meinen Lebensrhythmus zu halten. Mich nicht hängenzulassen. Im Übrigen gilt ja die alte Regel: Wenn du öffentlich was machst, z. B. Kolumnen, Aktionen oder Flaneursalons, soll niemand mitbekommen, wie es dir geht. Schließlich dein Problem.

Erleben musste ich, dass beteuerte „Freundschaft“ oft nichts anderes ist als Heuchelei, Alibi-Getue, Scheinheiligkeit. Nicht so unüblich in Milieus, in denen „Solidarität“ öfter propagiert als praktiziert wird. An solchen späten Erkenntnissen ist man immer auch selber schuld: Mit etwas mehr Einfühlungsvermögen hätte ich das Unheil schon früher ahnen können. 2021 ist kein gutes Jahr, es ist für mich ein dunkles und wird mich noch lange über sein Ende hinaus beschäftigen.

P. S.: Zuletzt war ich krank (kein Corona), deshalb diese Woche keine neue Kontext-Kolumne.





 

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