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Samstag, 03. August 2019, 2117. Depesche



 

ZUM TOD VON DACIA

Eigentlich wollte ich gestern im Internet nichts dazu sagen. Als dann aber nach kryptischen Posts auf Facebook Fragen auftauchten, habe ich zur Vermeidung von Gerüchten auf die Schnelle diese Zeilen geschrieben - und sie inzwischen aus guten Gründen auf Facebook gelöscht:

Die Sängerin und Musikerin Dacia Bridges, die bis 2015 viele Jahre in Stuttgart lebte, ist am Donnerstag völlig unerwartet in Michigan/USA gestorben. Sie wurde 46 Jahre alt. Sie wurde leblos in ihrem Bett gefunden. Todesursache war, wie sich später herausstellte, ein Hirnaneurysma.

Dacia lebte die letzten Jahre mit ihrer zehnjährigen Tochter und ihren Eltern in Battle Creek in Michigan, nicht weit von Detroit, vor zwei Wochen zog sie nach Kazamazoo um.

Dacia ist von 2007 bis 2015 regelmäßig im Flaneursalon aufgetreten. Wo sie war, war Leben. Sie hatte Energie, Präsenz, Humor. Betörend die prickelnde Sanftheit ihrer kraftvollen Stimme. Sie war im Rock & Roll genauso zu Hause wie im akustischen Folk. Sie schrieb Songs, interpretierte Balladen von Leonard Cohen und sang mit Lemmy Kilmister im Duett („Losing you“). Nach ihrem Umzug in die USA musizierte sie weiterhin mit eigenen Bands, hatte viel vor. Sie lebte und arbeitete diszipliniert und wusste, was Freundschaft bedeutet.

Am Donnerstagmorgen wurde ich von einer ihrer besten Freundinnen über ihren Tod informiert. Viele Bilder gingen mir wie Filmszenen samt Ton durch den Kopf. Schon eine Weile hatte ich den Wunsch, sie im kommenden Jahr zu einer gemeinsamen Sache nach Stuttgart einzuladen. Jetzt können wir, ihre Freunde, nur noch gemeinsam etwas zur Erinnerung an Dacia machen.



EIN VIDEO ZUM ABSCHIED

DACIA SINGT



Und ein Text zur Erinnerung:



REGEN UND GRAUPEL

Er ist gegangen, bevor der erste Schneemann im Regen und in Graupeln stehen wird.

In der Nacht zum 11. November 2016, als mein Taschentelefon am Kabel hängt, aber nicht auf lautlos geschaltet ist, weckt mich um Viertel vor vier das Klingeln einer SMS. Die Nachricht kommt aus Michigan/USA, und es ist keine von der Sorte, die man umgehend löscht in der Hoffnung, für die Fortsetzung der verdienten Nachtruhe eines alternden Spießers stehe draußen im Novemberregen der Sandmann mit einer Keule bereit.

In der SMS lese ich, einer der großen Dichter unserer Zeit sei tot: die goldene Stimme, der Lady Killer, der Undercover Lover, der demütige Vater der berührenden Worte. Ausgerechnet in den Tagen der großen Veränderungen sei dieser inspirierende Geist der Musik und Poesie von uns gegangen. Trauer. Tränen.

Nachdem ich ein paar, so hoffe ich, tröstende Zeilen zurückgeschrieben habe, gehe ich zum Plattenregal. Zu meiner großen Überraschung entdecke ich neben anderen Scheiben des Undercover Lover das dreiteilige Vinyl-Album Live In London. Ich wusste nicht mehr, dass ich es vor Jahren gekauft hatte. Dem Sandmann sage ich, er könne schlafen gehen und wiederkommen, wenn ich die Sache mit dem Schneemann erledigt hätte.

Auf dieser Platte findet sich die sehr schöne „Rezitation“-Version des Songs A Thousand Kisses Deep mit den berührenden Sätzen über Regen und Graupel: „I’m just another snowman standing in the rain and sleet, who loved you with his frozen love“, aufgenommen 2009, im Jahr bevor Leonard Cohen zum letzten Mal in Stuttgart auftrat.

Der Tod Leonard Cohens, dachte ich im ersten Augenblick, ist die Antwort auf den Wahlsieg Donald Trumps. Doch ist diese These nicht sehr schlüssig. Der große Songschreiber war zwar Amerikaner, allerdings gebürtiger Kanadier und geborener Weltmann. Als der Irre gewonnen hatte, lenkte ich mich eine Weile ab mit den Gedanken an die Frauen und Männer der USA, die gute Bücher schreiben und gute Musik machen, gute Kunst und gute Filme produzieren, und an die vielen Menschen, die womöglich gute Dinge tun, auch wenn sie niemand kennt.

Was soll ich machen. Amerika ist mir ziemlich nah, ich hab’s gefressen, seit Huckleberry Finn und Winnetou: Für mich war der Übergang von Winnetous Hengst Iltschi im „Schatz im Silbersee“ zu Dennis Hoppers Harley Davidson in „Easy Rider“ ja geradezu fließend.

Amerika ist überall. Und beim Blick auf die neuen Unruhen in den Vereinigten Staaten fiel mir ein: Vor dem einstigen US-Konsulat in der Stuttgarter Urbanstraße hat 1998 ein umstürzender Fahnenmast einen Passanten erschlagen. Heute erscheint mir dieses tragische Unglück als eine kaum erwähnenswerte Bagatelle bei der Vorstellung, was die Kommandozentralen Eurocom und Africom in Vaihingen und Möhringen unter amerikanischer Flagge alles anrichten und anrichten können, wenn sie wollen.

Als Leonard Cohen am 1. Oktober 2010 in Stuttgart auftritt, logiert er mit seiner Crew im Hotel Le Méridien an der Willy-Brandt-Straße, gegenüber vom Schlossgarten. Einen Tag vor ihrer Show gehen die Musiker spazieren und sehen die Szenen im Park. Einer von ihnen, sichtlich verunsichert, fragt einen Mitarbeiter des Veranstalters: „Jesus, was machen die vielen Militärs im Park? Ist schon wieder Krieg in Deutschland?“

Es war der Schwarze Donnerstag am 30. September 2010, der Tag, an dem eine Polizeiarmee die Stuttgart-21-Gegner niederknüppelte, um die Bäume zu fällen und den Park zu besetzen. Tags darauf dann dieser denkwürdige Abend mit Leonard Cohen in der Schleyerhalle.

Die Floskel sei erlaubt, es ist Zauber, diese Art Magic, die schwer zu beschreiben ist: Der kleine Mann mit Hut und Gitarre strahlt weithin spürbar eine innere Ruhe und Gelassenheit aus, die mit dem Begriff „Präsenz“ allein nicht zu erklären ist. Sein angerauter Bariton raunt und haucht, bis jeder auch noch in der letzten Reihe begreift, warum das Leise oft lauter und intensiver einschlägt als Lärm – und sich nicht mal von der Hässlichkeit einer Mehrzweckhalle dämmen lässt.

Leonard Cohen bedankt sich im Lauf des Abends beim Publikum: Es sei ein Privileg, sagt er, sich bei einem Konzert zu treffen, während Chaos und Dunkelheit die Welt in Beschlag nehmen. Und dann, in der Halle herrscht Gänsehaut-Andächtigkeit, bekundet er seine „Solidarität mit den Bäumen, die Sie so wertgeschätzt haben“. Unter dem Jubel des Publikums beginnt er seinen Song Anthem, eine Hymne mit der leisen Bitte, nie aufzugeben: „Ja, die Kriege werden / Weiter gehen“, heißt es darin. „Die heilige Friedenstaube / Sie wird wieder eingefangen / Gekauft und verkauft / Und wieder gekauft werden / Sie wird nie frei sein … Läute die Glocken, die noch klingen.“ Ring the bells that still can ring ...

Ein Jahr später, beim Gedenktag an den Schwarzen Donnerstag mit Tausenden von Menschen im damals noch nicht gänzlich verwüsteten Schlossgarten am Bahnhof, singt die in Stuttgart lebende Amerikanerin Dacia Bridges zwei Songs von Leonard Cohen, „Bird On The Wire“ und „Hallelujah“.

Vier Jahre später lebte Dacia wieder in den USA. Nach Leonard Cohens Tod erreichte mich ihre SMS aus Michigan. Die Nacht war gelaufen. Ich setzte mich aufs Sofa und legte das Album Live In London auf. Als „A Thousand Kisses Deep“ einsetzte, ging ich ans Fenster und schaute nach, ob im Garten der Snowman steht. Es regnete in dieser Novembernacht, an die ich mich noch erinnern werde, wenn Graupelkörner den letzten Schneemann schon erledigt haben.



 

 

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