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Freitag, 15. Februar 2019, 2066. Depesche



 



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Neue StN-Kolumne:

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Es ist ein kalter, sonniger Freitagmittag im Februar. Auch der Friedhof wirkt, als wolle er sich eine Auszeit gönnen. Die Asche des lange in Stuttgart beheimateten Sozialwissenschaftlers und Autors Wolfgang Pohrt ist gerade im Grab seiner 2004 verstorbenen Frau Maria in Heslach beigesetzt worden. Wir, die zwei Dutzend Trauergäste, gehen ins Ritterstüble, es liegt nur wenige Schritte vom Friedhof entfernt.

In der Kneipe sitze ich zufällig neben dem Schauspieler und Autor Christof Wackernagel, den ich zuvor nur aus dem Fernsehen kannte. Er hat eine Stuttgarter Geschichte. Nach seiner Rolle in Johannes Schaafs Film „Tätowierung“ 1967 zu einem Jungstar des neuen deutschen Kinos aufgestiegen, gründete er in den Siebzigerjahren mit Freunden in Stuttgart die Druckerei Fantasia. Diese Werkstatt verbreitete damals linke, revolutionäre Gedanken aus einem gesellschaftlichen Klima, das heute nur schwer zu verstehen ist. Das Firmenschild „fantasia-druck gmbh“ hängt immer noch an einem Haus in der Schlosserstraße im Heusteigviertel; ich komme oft daran vorbei.

Christof Wackernagel, 1951 in Ulm als Spross einer Schauspielerfamilie geboren, landet in den Siebzigern beinahe in Hollywood. Der britische Regisseur Alan Parker bietet ihm eine Rolle in seinem Film „Midnight Express“ an. Doch Wackernagel will sich, sagt er mir, „nicht verleugnen“. Im Frühsommer 1977 schließt er sich der RAF an und geht in den Untergrund. Im November wird er nach einer Schießerei mit Polizisten an einer Telefonzelle in Amsterdam zusammen mit seinem Freund Gert Schneider verhaftet und 1980 in Düsseldorf zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Der holländische Polizist und Einsatzleiter Herman van Hoogen, der Wackernagel angeschossen hat und dabei von ihm verletzt worden ist, setzt sich schon bald, wie auch der Theaterintendant Claus Peymann, für die vorzeitige Freilassung der beiden Terroristen ein. Der Polizist beurteilt die beiden politisch motivierten Täter anders als die Verbrecher, mit denen er sonst zu tun hat. Er will „keine Vergeltung“. Eine psychologisch tiefgründige Geschichte, die meine Kolumne nicht erklären könnte. Als die beiden ehemaligen RAF-Männer 1987 entlassen werden, wartet vor dem Bochumer Gefängnis Herman van Hoogen mit Blumen. Der Beginn einer langen Freundschaft.

Im Knast hat Wackernagel einen regen Briefwechsel mit Wolfgang Pohrt geführt, mit einem der brillantesten, kompromisslosesten und humorvollsten deutschen Intellektuellen jener Zeit. 1987 sagt Pohrt selbstironisch in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten: „Mein Job ist die Ideologiekritik, das habe ich gelernt. Die Leute sagen mir, was sie denken, und ich sage ihnen, warum das falsch ist.“

Pohrt sagt Wackernagel, warum es falsch ist, der RAF anzugehören. „Dafür bin ich Wolfgang bis heute dankbar“, sagt der Schauspieler. „Er hat mich von der RAF weggebracht. Deshalb bin ich zu seiner Beerdigung gekommen.“

Unsereins wird ein Erlebnis mit Wolfgang Pohrt so wenig vergessen wie die lange zurückliegende Lektüre seines Buchs „Honoré des Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit“. Die Grabrede in Heslach, eine Hommage voller Gegenwartsbezüge, hielt der Berliner Verleger Klaus Bittermann, der Wolfgang Pohrts Gesamtwerk herausgeben wird.

Im Sommer 2017 hatte mich der Verleger angerufen, ich solle doch nach seinem Autor schauen. Er sei nicht mehr erreichbar, wie vom Erdboden verschwunden. Ich machte mich auf die Socken und landete im Westen der Stadt am Eingang des Wohnblocks mit seinem kleinen Apartment vor einem überquellenden Briefkasten. Ich klingelte wahllos. Niemand in der Nachbarschaft wusste zunächst etwas Genaues. Irgendwann höre ich, er sei vielleicht in einem Heim, im Namen „was mit Hase“. Eine Frau sagte mir, Herr Pohrt habe ihres Wissens mit einem Mann „aus einem Computerladen“ in der Falkertstraße Kontakt gehabt.

Nach längerer Suche entdeckte ich ein kleines Firmenschild. Es weist, bis heute, auf ein Tonstudio im Keller eines Hauses hin. Der Besitzer kannte Wolfgang Pohrt tatsächlich, er hatte ihm einst seine kleine Wohnung überlassen. Etwas stimme nicht mit Wolfgang, erzählte er.

Den Vermissten fand ich schließlich im Haus am Hasenberg, einem Pflegeheim. Klaus Bittermann und ich besuchten ihn bald darauf. Ein Schlaganfall hatte Wolfgang Pohrts Gehirn schwer beschädigt. „Diese Krankheit zeigt, zu welch monströsen Auswüchsen das menschliche Gehirn fähig ist“, sagte er – und war noch für einen Moment der Alte: „Bei dir hat die Gehirnerweichung auch schon große Fortschritte gemacht“, frotzelte er in Richtung Verleger.

Am 21. Dezember 2018 ist Wolfgang Pohrt mit 74 Jahren gestorben. Die „Frankfurter Allgemeine am Sonntag“ schreibt: „Wenn heute sein Name nur noch wenigen Lesern etwas sagt, dann liegt das daran, dass Pohrt einer der intelligentesten, streitbarsten und zugleich unerträglichsten Menschen seiner Zeit war, ein Kopf, so unabhängig und unbestechlich, dass an eine stabile Karriere im akademischen oder publizistischen Betrieb einfach nicht zu denken war.“

Diese Zeilen habe ich notiert, weil es nicht gut ist, wenn einer wie Wolfgang Pohrt vergessen wird in der Stadt, in der er gelebt hat und gestorben ist. Auf dem Friedhof erzählte mir eine Bekannte, Wolfgang Pohrt sei noch lange nach dem frühen Tod seiner Frau jeden Morgen und jeden Abend mit dem Bus nach Heslach gefahren und habe eine rote Rose auf das Grab seiner Frau gelegt. Liebe, hat dieser radikale Denker einmal geschrieben, sei unheilbar.



 

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