Bauers Depeschen


Montag, 18. Juni 2018, 1968. Depesche



 



LIEBE GÄSTE,

die kommenden drei Wochen mache ich Kolumnenpause, um ein Kolumnenbuch vorzubereiten: "Im Staub von Stuttgart" erscheint in diesem Herbst in der Editition Timat, Berlin - rechtzeitig zur Geburtstagsshow "20 Jahre Flaneursalon" am 21. Oktober im Gustav-Siegle-Haus.



Hört die Signale!

DAS LIED ZUM TAG



StN-Kolumne online mit einer Woche Zeitverzögerung:



EIN LIED VON TOD UND LIEBE

Wenn du an einem guten Tag am Stuttgarter Nordbahnhof aussteigst, hast du Stuttgart weit hinter dir gelassen. Alles, was du kennst, ist verschwunden. Und die S-Bahn-Fahrt scheint am Morgen, wenn der Tag noch eine Zukunft hat, nur einen Atemzug gedauert zu haben.

An der Haltestelle warten Lilith Becker und Marc „Locke“ Dasing. Beide arbeiten als Künstler in der Waggon-Stadt, wenn ich ihr Revier so nennen darf. Eine kleine Stadt, die ein Leben gegen die Gewohnheiten zulässt. In der Waggon-Stadt finden Menschen wie Lilith und Locke etwas Raum, etwas Freiheit – und das Gefühl, nicht allein und bei sich zu sein.

Die Waggons auf dem Bahngelände rund um die Bühnen und Ateliers der Wagenhallen, die zurzeit für eine Menge städtischer Millionen umgebaut werden, sind seit 20 Jahren ein Quartier kreativer Köpfe. Bildende Künstler, Musiker, Architekten, Aktionisten, Gärtner. Bunter Ort einer anfänglichen Subkultur, gewachsen aus Zufällen rund um Stuttgart 21. Das Ergebnis künstlerischer, menschlicher Radikalität: der Hinwendung zu den Wurzeln schöpferischer Arbeit.

Es wäre falsch, dieses andere Stuttgart mit romantischem Blick zu verwässern, auch wenn ich als Tourist gelegentlich dazu neige. Sogenannte Freiräume haben ihre Tücken. Sie sichern keine Existenz. Kunst in dieser Umgebung ist Risiko. Niemand weiß, wie lange das alles gut gehen wird, bei der Arbeit da draußen.

Locke, den ich schon ein paar Tage kenne, hat vor Kurzem an der Kunstakademie auf dem Weißenhof sein Diplom als Kommunikationsdesigner erworben. Was er kann, verdankt er nicht nur der Hochschule, vieles hat ihn das Leben am Nordbahnhof gelehrt. Die bunten Waggons sind Keimzellen der Kreativität, Experimentierfelder, Versuchslabors , Sprungbretter.

Locke hat mir eine Mail geschickt: Die Deutsche Bahn habe vor, im kommenden Jahr das Atelierhaus am Rand der stillgelegten Waggongleise abzureißen. Dies, sagt er, könne auch das Ende der Waggons bedeuten. Das bewohnte Atelierhaus ist die Versorgungsstation der Nordbahnhof-Leute. Es liefert Wasser, Strom, Internet. Hier gibt es Küche, Bad, Waschmaschinen.

Lilith drückt mir eine Dokumentation in die Hand, ein schönes Buch mit dem Titel „Bauzug 3YG“, benannt nach dem Typ der Eisenbahnwagen auf dem Gelände. Im Vorwort schreibt der Direktor des Württembergischen Kunst­vereins am Schlossplatz, Hans D. Christ: „Kulturelle Vielfalt zeigt sich eben nicht in zum Museum aufgepumpten Autohäusern, in denen Eigenwerbung mit kultureller Nachhaltigkeit verwechselt wird. Letztere entsteht in den Freiräumen, die eine Landeshauptstadt im nationalen und internationalen Wettbewerb zwingend zur Verfügung stellen muss.“

Ich spreche mit Lilith und Locke über das ewige Missverständnis, Errungenschaften wie die Waggons als exotische Beigabe der Stadt zu betrachten, als Spielwiese für Freaks. In den politischen Gremien fehlt der Blick für die Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit solcher Arbeits-, Erfahrungs- und Entdeckungsräume in einer städtischen Kultur, die Kunst, Courage und Lebensqualität hervorbringt.

Einen der ehemaligen Personenwagen haben Nordbahnhof-Leute als „Residenzwaggon“ eingerichtet: Er dient Neulingen eine Zeit lang als kostenloses Atelier, eine Art Stipendiumsplatz. Wir treffen Verena Spatz, 24 Jahre junge Residenz-Künstlerin aus Bayern, die gerade ihre Ausbildung als Bühnenmalerin am Stuttgarter Staatstheater beendet hat. Sie hat nun die Möglichkeit, zwei Monate im Waggon an den Bildern für ihre erste Ausstellung zu arbeiten. Nirgendwo sonst in Stuttgart, sagt sie, bekäme sie eine solche Chance.

Aus diesem Biotop am Nordbahnhof, wo heute viele im Wohnviertel jenseits der Waggon-Stadt unter den Mieterhöhungen der Immobilienhaie leiden, sind zahlreiche namhafte Könner und Künstler hervor­gegangen. Was etwa wäre die Stuttgarter Musikszene ohne den experimentier- und risikofreudigen Veranstalter Moritz Finkbeiner, trotz ewig klamme Kasse ein Altwaggon-Mensch erster Klasse. Man könnte Dutzende Frauen und Männer aufzählen, die diese Stadt interessanter machen, ihr Farben und Töne verleihen, wie sie im Epizentrum des Bauwahns und der Mietenexplosion nicht vorstellbar sind. Was fehlt, ist ein politisches Bewusstsein für die Selbstverständlichkeit, für die Notwendigkeit solcher Orte. Freiräume sind kein Luxus. Man braucht sie wie Lebensmittel. Die bildende Künstlerin und Musikerin Lilith, auch im Vorstand des Waggon-Vereins aktiv, zeigt mir ihren Wagen. In der Mitte steht ein kleines Harmonium, es kommt aus Melbourne. Wenn wir schon mal hier sind, sage ich, sing uns ein Lied. Und dann hören wir eine schwarze Ballade über die Liebe, ein Messer und das Blut. Demnächst wird Lilith diese Moritat in ihrer neuen Solo-Show präsentieren. Ihr Programm entsteht im Waggon.

Lilith und Locke zählen nicht zu denen, die sich beklagen, die fordern, lamentieren. Das Waggonleben macht gelassen. Zurzeit allerdings haben sie die Schwierigkeit, bei der Stadt in ein Büro, in ein Amt der Zuständigkeit für ihre Sache vorzudringen. Sie leben und arbeiten auf städtischem Gelände, finden aber trotz etlicher Versuche niemanden im Rathaus, der sie aufklären könnte, wie es weitergeht. Es fehlt die Verständigung, es fehlt jemand im Rathaus, der sich kümmert. Womöglich mangelt es grundsätzlich am Verständnis für die Bedeutung von Orten, die einer Stadt Charme und Atmosphäre geben. Eine Stadt öffnet sich, wenn sie etwas zulässt.

Auf dem Heimweg werde ich dieses schöne Lied über das böse Ende nicht mehr los.

 

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