Bauers Depeschen


Montag, 09. April 2018, 1928. Depesche

 

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Es gibt noch Karten für den Flaneursalon am Donnerstag, 19. April, im Stuttgarter Stadtarchiv in Cannstatt. Die Lieder- und Geschichtenshow mit Marie Louise & Zuran Dzagnidze, Loisach Marci, Mazen Mohsen und Timo Brunke. Vorverkauf: RESERVIX



Ein Text für ein Buch mit Beiträgen verschiedener Autoren, das in Frankfurt von Stefan Geyer zum Thema „Warten“ herausgegeben wird (und auch in meinem neuen Buch „Im Staub von Stuttgart“ zu finden ist):



VERMISST

Von Joe Bauer

Ein Freund aus Berlin rief mich an mit der Bitte, in Stuttgart einen alten Freund von ihm zu suchen. Seit einiger Zeit gehe er nicht mehr ans Telefon, beantworte keine E-Mails und keine Briefe.

Ein kaum bemerkenswerter Auftrag für mich, den gewohnheitsmäßigen Spaziergänger. Die Adresse des Vermissten war bekannt und keine halbe Stunde von meiner Wohnung entfernt. Ich ging nicht los in der Erwartung, in einer abgelegenen Wohnung irgendwo unterm Dach einen Toten zu finden. Unsere Stadt ist zu klein für Anonymitäten.

Ich wusste nicht, wie lange mein Freund aus Berlin gewartet hatte, bis er die Suche aufnahm. Vielleicht war der längst begraben und vergessen, was mich nicht gewundert hätte. Vor Jahrzehnten war er unter linken Intellektuellen ein bekannter, unorthodoxer und streitbarer Autor gewesen, der, wie man so sagte, den Diskurs mitbestimmte, ein glänzender Rhetoriker auf den wichtigen Podien der Republik. Der Berliner Freund, ein bekannter Kleinverleger, hatte eine Reihe von Büchern von ihm veröffentlicht. Ein paar hatte ich gelesen, eines sogar mit Begeisterung. Es handelte von Balzac und dem Literaturgeschäft. Das Geschäft war im 19. Jahrhundert so ausbeuterisch wie heute.

Obwohl der Vermisste lange in derselben Stadt lebte wie ich, war ich diesem scharfsinnigen, brillant schreibenden Mann nur selten begegnet. Ich erinnere mich, wie ich ihn und den Verleger einmal kurz vor einer Großkundgebung gegen das Immobilienprojekt Stuttgart 21 am Bahnhofseingang traf. Der Autor grinste mich an und fragte, ob ich immer noch an solch lustigen, sinnlosen Aktionen teilnähme. Er selbst war gekommen, um den Verleger abzuholen. Der Höhepunkt des Protests gegen Stuttgart 21 war schon einige Monate überschritten, und der Autor hatte bereits sein Buch „Kapitalismus Forever“ veröffentlicht. Ich hatte es gelesen und an seiner Erkenntnis zu kauen, dass es keinen Sinn mehr habe, auf politische Veränderungen zum Guten zu warten. Oder gar dafür zu kämpfen – schon weil das Wort „kämpfen“ angesichts wirklicher Kämpfe oft genug ziemlich läppisch klingt.

Als ich mich nun Jahre später auf den Weg machte, den Autor zu suchen, gingen mir diese Bahnhofserinnerungen durch den Kopf, und mir wurde etwas mulmig, weil ich befürchtete, ich könnte ihn bei guter Gesundheit in dunkler Zurückgezogenheit antreffen und erneut Opfer seines Zynismus werden, gegen den ich mir nicht den Hauch einer Chance gegeben hätte.

Sollte er wider Erwarten auf mein Klingeln hören, werde ich meinen ganzen Mut zusammennehmen und sagen: Guten Tag, Meister, ich bin Emil der Detektiv und komme im Auftrag deines Verlegers, bei dem du früher nicht annähernd das verdient hast, was du verdient gehabt hättest.

Dann stand ich vor einem der Wohnblöcke, die man in der Republik gebaut hat, um in großen Kästen möglichst viele Menschen auf kleinem Raum unterzubringen. Nach einigen Minuten fand ich seine Klingel, sah den überquellenden Briefkasten und begann mit einer Übung, die wir als Kinder „Klingelputzen“ genannt hatten. Das war mir etwas peinlich, auch wenn ich nicht wie früher wegrennen musste. Eine Weile rührte sich nichts. Es war Nachmittag, die Menschen waren bei der Arbeit oder nicht so träge, ihre Rente zu Hause abzusitzen. Als endlich eine ältere Frau aus dem Fenster schaute, sagte ich, dass ich den Freund eines Freundes suche und nichts verkaufen wolle. Sie schüttelte den Kopf, hatte den Namen ihres Nachbarn nie gehört. Ich klingelte wahllos weiter. Spaziergänger haben keine Eile.

Ein zweites Mal ging ein Fenster auf, und als ich darauf hinweisen wollte, dass ich kein Vertreter sei, sagte eine freundliche Frau: „Das ist ja eine Überraschung, ich kenne Ihr Gesicht aus der Zeitung.“ Zum Glück kannte sie auch den Namen des Autors, wusste aber nicht, wo er abgeblieben war. Vielleicht in einem Heim, sagte sie, sie habe so etwas gehört. Wie dieses Heim hieß, wusste sie nicht, erinnerte sich aber an das Wort Hase im Namen. Dann fiel ihr ein, dass der Mann, den ich suchte, hin und wieder von jemandem aus dem Viertel besucht worden sei, einer aus einem Eckhaus in einer benachbarten Straße. „Der macht irgendwas mit Computern“, sagte sie.

Ich folgte ihrer Wegbeschreibung, hielt Ausschau nach einem Eckhaus mit Computerspuren und stand schließlich vor einem Schild mit der Aufschrift „Tonstudio“. Ein Mann, der schon eine gute Strecke seines Lebens hinter sich zu haben schien, stand vor der offenen Tür. Ich sagte: „Mann, an dieser Ecke hätte ich alles erwartet, bloß kein Tonstudio.“ Bald war klar, dass der Mann, der sich nach längerem Zögern als Milan vorstellte, nichts mit Computern am Hut hatte. Er war ein eiserner Analog-Anhänger und erzählte, dass er demnächst in Rente gehe und sein Nachfolger leider schon dabei sei, den Laden zu digitalisieren.

Das Studio war im Keller und Milan anscheinend im Schlagergeschäft. Es roch an dieser Ecke nach Schlager, und etliche Stunden später konnte ich im Internet über Milan auch nichts anderes finden außer einem Hinweis auf irgendein Schlagerding. Er war dermaßen anlog, dass er nicht mal eine Homepage hatte.

Dafür kannte er den Gesuchten. Zunächst hatte mich Milan etwas misstrauisch beäugt, wurde aber etwas gesprächiger, als er merkte, dass mir die Rummelplatzlichter seines Berufslebens nicht ganz fremd waren. Es stellt sich heraus, dass er den Vermissten irgendwann zufällig kennengelernt und ihm seine kleine Wohnung abgetreten hatte, nachdem die Frau des Autors gestorben und die große Wohnung nicht mehr zu halten gewesen war.

Der Autor aber behandelte – vermutlich schon krank – den Musikproduzenten nicht gerade gut und schmiss ihn eines Tages raus, als er für ihn wieder mal freundlicherweise die nötigsten Einkäufe erledigt hatte. Milan nahm ihm das immer noch übel, er wusste nichts von der Art der Krankheit des Autors und brach die Beziehung ab.

Er gab mir eine Visitenkarte aus Plastik, sie wies ihn aus als Musikproduzent und Verleger, Tonmeister, Komponist und Texter, Discjockey, Hifi-Fachberater und Bürokaufmann. Die ganze Geschichte machte mir schon auf meinem Heimweg schwer zu schaffen, weil mir als Emil der Detektiv die Verbindung eines einstmals bekannten Sozialwissenschaftlers und Publizisten mit einem analogen Schlagermanager aus einem Kellerstudio in einer durch und durch bürgerlichen Wohngegend so merkwürdig vorkam, dass mir der verstörende Gedanke kam, ich hätte an einem langweiligen Tag die ganze Geschichte nur erfunden, um sie aufzuschreiben. Kein halbwegs klar denkender Mensch kann erwarten, einer solchen Geschichte in der Wirklichkeit zu begegnen.

Das Pflegeheim mit dem Hasennamen lag etwas im Abseits der Stadt, war aber aber auf digitalem Weg so schnell gefunden wie der Autor telefonisch als Patient ermittelt. Bald darauf kam der Verleger angereist, und wir besuchten den Autor. Der rauchte Filterzigaretten und trug wie früher seinen kleinen Schnurrbart. Den Verleger erkannte er sofort. Wir redeten eine Weile, und wir lachten, als ich die alte Geschichte von dem depperten Demonstranten vor dem Bahnhof erwähnte.

Einige Bemerkungen des Autors ließen erahnen, dass er bereute, sich zu viel um den Diskurs und zu wenig um sich selbst gekümmert zu haben. Er wusste von seiner Krankheit. Einmal sagte er: „Diese Krankheit zeigt, zu welchen monströsen Auswüchsen das menschliche Gehirn fähig ist.“ Als ich diesen Satz heimlich unterm Tisch in mein kleines Notizbuch kritzelte, hätte ich fast überhört, wie der Autor zu seinem Verleger sagte: „Bei dir hat die Gehirnerweichung auch schon große Fortschritte gemacht."

Einige Tage später, nachdem ich von unserem Besuch im Pflegeheim geträumt hatte, beschloss ich, den Autor noch einmal zu besuchen und stieg mit einer Stange Filterzigaretten in ein Taxi. Als das Auto schon fuhr, fiel mir auf, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Tesla saß. Zufällig hatte ich gerade Anthony McCartens Roman „Licht“ über die kapitalistischen Verbrechen des Bankers J. P. Morgan im Leben des Erfinders Thomas Alva Edison gelesen und wusste, dass das Stromgenie Tesla der Gegenspieler Edisons und am Ende der Betrogene war.

Die Luxuskarre roch neu und teuer und rollte so geräuschlos Richtung Pflegeheim, dass ich schon wieder fürchtete, etwas stimme nicht mit mir.

Womöglich, dachte ich unterwegs, hatte der Autor sich eines Tages vorgeworfen, zu lange gewartet zu haben, sein Leben zu ändern, weil er an der Veränderung der Welt gearbeitet hatte. Wenn er in seinem Rollstuhl noch auf etwas wartete, dann sicher nicht auf mich. Er litt an Demenz.

Nicht lange nach meinem Besuch im Heim erschienen alte Texte des Autors in neu veröffentlichten Büchern des Verlegers. Ich werde Milan suchen müssen, um mir zu beweisen, dass ich nicht alles erfunden habe.

 

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