Bauers Depeschen


Donnerstag, 22. Februar 2018, 1913. Depesche



 



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Die aktuelle StN-Kolumne:

HEUTE HÄNGT IHR UNS ...

Es ist kalt und die Bahn in Verzug, als ich nach Sillenbuch fahre. Vorbei am Fernsehturm und an der Haltestelle Silberwald, Ausstieg Schemppstraße. Diese Strecke bin ich schon öfter gefahren, um eine Familie aus Afghanistan zu besuchen. Kennen­gelernt hatte ich sie in ihrer vorherigen Unterkunft, einer Ostheimer Turnhalle. Die Rahimis – Vater, Mutter, drei Kinder – leben seit zwei Jahren im Sillenbucher Containercamp an der Richard-Schmid-Straße.

Diese Straße wurde 1991 nach dem 1986 verstorbenen Stuttgarter Juristen und Widerstandskämpfer Richard Schmid benannt. 1938 war er von Nazis verhaftet und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Mit viel Glück kam er wieder frei; nach dem Krieg wurde er Generalstaatsanwalt von Baden-Württemberg.

Seit Kurzem wohnen die Rahimis in drei und nicht mehr wie zuvor in zwei Containerräumen. Die Stadt hat pro Flüchtling den Anspruch von viereinhalb auf sieben Quadratmeter erhöht. Im Camp-Büro wechsele ich ein paar Worte mit Frau John-Onyeali, der Sozialarbeiterin, und begegne Mullah und Karl. Die beiden 15-jährigen machen im Container zurzeit ihr einwöchiges Sozialpraktikum. Ihre Schule liegt in unmittelbarer Nachbarschaft des Flüchtlingscamps: das Geschwister-Scholl-Gymnasium im Stadtteil Riedenberg, Bezirk Sillenbuch.

Im November 1976 wurde die Schule eingeweiht, ihren Namen aber trägt sie erst seit 1983. Eltern und Schüler haben sich dafür eingesetzt. Die Taufe des mit 920 Schülerinnen und Schülern größten staatlichen Stuttgarter Gymnasiums nahm ­Manfred Rommel vor – mehr als 40 Jahre nach der Ermordung der Ulmer Studenten Hans und Sophie Scholl durch die Nazis. Heute, am 22. Februar, jährt sich der Tag ihrer Hinrichtung zum 75. Mal. Hans wurde 24, seine Schwester Sophie 21 Jahre alt.

Der Stuttgarter AfD-Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon, ein Holocaust-Leugner und Antisemit, hat neulich gefordert, die Stolperstein-Aktionen in den Städten zur Erinnerung an die Opfer der Nazis einzustellen. Angesichts des Rechtsrucks, befeuert von rechtsextremen AfD-Politikern, müssen wir heute dankbar sein für alle sichtbaren Erinnerungen an die Verbrechen der Faschisten, auch wenn sie oft ohne Bezug zum Leben der Opfer nur in abgelegenen Gegenden zu finden sind – wie etwa der Lilo-Herrmann-Weg auf dem Fasanenhof zum Gedenken an die mit 28 Jahren ermordete Widerstandskämpferin.

Außer der Richard-Schmid-Straße in Riedenberg gibt es in der Umgebung des Geschwister-Scholl-Gymnasiums ein Straßenschild für die jüdische Malerin Klara Neuburger, auch sie ein Opfer des Hitlerregimes. Manchmal frage ich mich, ob es nicht angebracht wäre, in der Öffentlichkeit auch an die Namen der Täter zur erinnern. Dann hätte der Terror ein Gesicht.

Als Spaziergänger erlebe ich Geschichte gewissermaßen live. Nach der kurzen Fahrt zur Schemppstraße und ein paar Schritten durch eine Einkaufspassage stehe ich mitten in den politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit. Linker Hand die Schule mit der Erinnerung an Menschen, die sich todesmutig gegen die Nazi-Verbrecher wehrten. Rechts die Unterkunft von Menschen, die man Flüchtlinge nennt, vielerorts von Rechten angefeindet und verhöhnt, bedroht und angegriffen. Ein denkwürdiger, symbolischer Ort in der Sillenbucher Abgeschiedenheit.

Hans und Sophie Scholl, zwei von sechs Kindern pazifistischer, religiöser Eltern, fertigten und verteilten mit ihren Geschwistern und Freunden Flugblätter mit Aufrufen zum Widerstand gegen Hitler. Zuvor hatten sie sich – trotz heftiger Einwände der Eltern – für die Hitlerjugend (HJ) und den Bund Deutscher Mädel (BDM) begeistert. Die Augen öffnet ihnen der Besuch des NSDAP-Parteitags 1936 in Nürnberg. Sie beschließen, „selbst mit einzugreifen in das Rad der Geschichte“. Im Juni 1942 gründen sie die Weiße Rose. Zu ihren Unterstützern gehört auch der Stuttgarter Buchprüfer Eugen Grimminger, verheiratet mit Jenny, geborene Stern, einer Jüdin. Er entgeht nur knapp dem Tod und überlebt die Nazi-Diktatur im Zuchthaus Ludwigsburg. 1986 stirbt er mit 93 Jahren in der Nähe von Esslingen.

Ich schaue mich um im Foyer des Gymnasiums. Neben Plakaten für Aktionen der Schüler hängen hinter Glas Texte und Fotos zur Geschichte der Familie Scholl. Eine Lehrerin erzählt mir, dass sich das Gym­nasium 2016/17 der Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ angeschlossen hat. Das Projekt, liest man auf der Homepage, wurde „1992 von Bürgerinitiativen, Menschenrechtsgruppen, Vereinen und Einzelpersonen als eine Antwort auf den gewalttätigen Rassismus, der sich in Mölln, Solingen, Hoyerswerda und Rostock Bahn brach, gegründet“. Das Prädikat „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ gilt den Mitgliedern als Verpflichtung für ein demokratisches, internationales Zusammenleben. Auf der Webseite des Gymnasiums heißt es: „Mit unserem Leitbild fühlen wir uns unseren Namensgebern, Hans und Sophie Scholl, verbunden. Unser Ziel ist es, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, sich zu verantwortungsbewussten, selbstständigen und mündigen Bürgern zu entwickeln.“

Zwischen dem Gymnasium und dem benachbarten Camp mit seinen 67 Bewohnern gibt es regelmäßig Kontakte. Für den 27. April planen sie gemeinsam in den Räumen der Schule ein öffentliches „Fest der Begegnung“ mit Essen, Musik, Aktionen.

Hans und Sophie Scholl, von dem obersten Nazi-Richter Roland Freisler am 22. Februar 1943 in einem Schauprozess zum Tod verurteilt, werden – wie ihr Freund Christoph Probst – noch am selben Tag in München-Stadelheim von dem Scharfrichter Johann Reichhart mit dem Fallbeil hingerichtet. Ihre Mitkämpfer Kurt Huber, Alexander Schmorell und Willi Graf trifft einige Monate später dasselbe Schicksal. Hans Scholl hat im Gerichtssaal zu den Richtern gesagt: „Heute hängt ihr uns, und morgen werdet ihr es sein.“

Heute rechtfertigen viele ihr Wegschauen mit dem Argument, dies alles sei so furchtbar lange her. Was für ein Unsinn. Dem eingekerkerten Juristen Richard Schmid wurde von den Nazis der Doktortitel aberkannt. Die Justiz der Bundesrepublik hat diese Entscheidung aufgehoben. Im Jahr 2002.





 

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