Bauers Depeschen


Freitag, 22. Dezember 2017, 1893. Depesche



 



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Kleine Erinnerung:

KOSCHER

Zum Ende des Jahres erinnere ich mich - nicht ohne bittere Anlässe - an einen Text vom Januar dieses Jahres, den ich jetzt nur ein wenig ergänzt habe:

Wieder mal diente mir der Zufall als Fremdenführer in der eigenen Stadt. Um mir eine Fahrkarte für einen kleinen Ausflug zu kaufen, ging ich zum Bahnhof. Hätte ich mir das Billett, wie heute üblich, online mit dem Taschentelefon besorgt, wäre mir etwas entgangen: Lange beobachte ich, wie die Leute in der Bahnhofshalle achtlos über den am Fußboden angebrachten Ruhmesstern für Carl Laemmle hasten. Womöglich ist es nicht besonders erhellend, die Geschichte mit Füßen zu treten.

Nach dem Vorbild von Hollywoods „Walk of Fame“ hatte man dem legendären Filmproduzenten bei uns ein Zeichen gesetzt. Neben dem Fünfzack mit seinem Namen war ein Plakat auf die Ausstellung im Haus der Geschichte zu sehen: „Carl Laemmle presents – Ein jüdischer Schwabe erfindet Hollywood“. Laemmle, vor 150 Jahren im oberschwäbischen Laupheim geboren, wandert mit 17 Jahren in die USA aus, gründet 1912 in Los Angeles die Universal Studios und schreibt Geschichte als einer der großen Pioniere des Hollywood-Films.

Berühmte Landsleute der Vergangenheit waren zum Jahresbeginn 2017 stark präsent in der Stadt: Das Landesmuseum zeigte die Ausstellung „Die Schwaben. Zwischen Mythos und Marke“. Die gierige Suche nach den Zeichen eines angeblichen Regionalcharakters hat mal der Tübinger Kabarettist Uli Keuler auf den Punkt gebracht. Gefragt, wie er den „typischen Schwaben“ beschreiben würde, sagte er: „Häufige Merkmale sind, dass er zwei Augen hat, eine Nase, einen Mund, zwei Ohren, dann unterschiedliche Geschlechtsmerkmale. Genaueres kann ich nicht sagen.“

Carl Laemmle (ursprünglich Karl Lämmle) blieb Laupheim zeitlebens nicht nur emotional, sondern auch mit großzügigen Spenden verbunden. In der Nazi-Diktatur setzte er sich für die Juden seiner Heimat ein und bewahrte viele vor der Ermordung.

Es war kurz vor den Holocaust-Gedenkfeiern am 27. Januar, dem Befreiungstag von Auschwitz, als ich an Carl Laemmles Stern im Bahnhof stand. Erfahrungsgemäß werden einem die Ausmaße des Nazi-Terrors am besten durch die Konfrontation mit den heute noch sichtbaren Tatorten in der gewohnten Umgebung, in der Nachbarschaft, bewusst. Da werden Opfer und TÄTER lebendig. Die Stolpersteine auf den Gehwegen vor den ehemaligen Wohnungen ermordeter Juden machen die Geschichte intensiver erfahrbar als routinemäßige Politikerreden. Es sind die allgegenwärtigen Orte der Schreckens, die eine emotionale Nähe zum Unfassbaren herstellen – und einem gleichzeitig den Blick öffnen auf das Treiben der Rechtsnationalen, der Völkischen und Nazis - und den herrschenden Antisemitismus.

Deshalb ist es nach wie vor erbärmlich und unverantwortlich, dass die einstige Stuttgarter Gestapo-Zentrale, das Hotel Silber in der Dorotheenstraße, trotz des großen Bürgerengagements immer noch nicht als Gedenk- und Lernort geöffnet ist. Dieses Gefängnis, in dem deutsche Beamte Menschen folterten und ermordeten, steht in der Nachbarschaft von Breuninger, einer Firma, deren einstiger Chef Alfred Breuninger als Nazi-Funktionär vom Hitler-Regime wirtschaftlich enorm profitierte. Nach wie vor blendet das Unternehmen seine braune Geschichte aus. Stadtpolitiker, die heute Gedenkreden halten, haben sich vor einigen Jahren nicht dazu durchringen können, der Auseinandersetzung mit dem Faschismus von gestern und heute das komplette Hotel-Silber-Gebäude zu widmen. Es blieb bei einem fauler Kompromiss: Ein Stockwerk, einst Schauplatz der Gestapo-Verbrechen, soll in diesem Haus kommerziell vermietet werden. So wird der Geist eines historischen Orts zerstört statt konserviert.

Dann besuchte ich, wieder zufällig, das Restaurant Teamim in der Synagoge im Hospitalviertel. Ein Mitglied meines vierköpfigen Männervereins zur regelmäßigen Erkundung von Lokalen in der Stadt hatte diesen Ort ausgewählt. Der Eingangsbereich der Synagoge mit Garten in der Hospitalstraße wurde gerade umgebaut. Ins Gebäude gelangten wir über die Rückseite, Firnhaberstraße. Für den Besuch im tagsüber geöffneten Restaurant muss man sich anmelden, der Sicherheitsdienst prüft bei der Ankunft in der Synagoge die Personalausweise.

Im Lokal selbst herrscht wohltuende Gastfreundschaft. Die Brüder Aurel und Richard Jäger, die beiden Köche, bereiten koscheres Essen zu. Die Zutaten kommen aus Frankreich und Israel. Wir essen Gemüsesuppe und Couscous, beides ausgesprochen gut. Die Brüder erzählen, dass es für das Lokal Umzugspläne innerhalb der Synagoge gebe. Jetzt erst fällt mir auf, dass ich keine Juden in Stuttgart näher kenne und nehme mir vor, bald wieder zu kommen, um mehr zu erfahren.

Die heutige Synagoge wurde am 13. Mai 1952 eingeweiht – vor 65 Jahren, was für ein kleines Jubiläumsritual in diesem Jahr sprechen dürfte. Auch die erste Stuttgarter Synagoge, 1861 eröffnet, stand an der Hospitalstraße. Beim Novemberpogrom 1938 brannte der Nazi-Mob unter dem Gejohle der Schaulustigen aus der Stadt das Haus nieder. Es wurde vollkommen zerstört, wie auch die Synagoge in Cannstatt, wo heute an der König-Karl-Straße eine merkwürdige, mithilfe von Schülern gestaltete Gedenkstätte vor einem Parkplatz angelegt ist. Auf nachgeahmten Verkehrswarnschildern liest man zwanghaft assoziierende Botschaften wie "Politische Führung am 30. 1. 1933 geändert" und "Anlieger frei bis 9. 11. 1938".

Nach Kriegsende lebten in ganz Stuttgart von einst fast 5000 jüdischen Mitbürgern nur noch 24. Aufgrund glücklicher Zufällen waren sie nicht deportiert worden oder hatten in Verstecken überlebt. Schon bald aber, bis zum Sommer 1946, kamen unerwartet viele nach Stuttgart: Die US-Besatzungszone wurde zentrale Aufnahmestelle für Juden aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Die Amerikaner führten diese Flüchtlinge als „Displaced Persons“ (DP) – als Heimatlose, als Menschen am falschen Platz.

Von 1946 bis 1948 werden in der Reinsburgstraße zwei jüdische Zentren mit Betraum eingerichtet, provisorische Synagogen. Am 29. März 1946 stürmen mehr als 200 Stuttgarter Schutzpolizisten und Kriminalbeamte das DP-Camp im Westen der Stadt, um nach Schwarzmarktwaren zu suchen. Bei der Razzia beginnen Polizisten zu schießen. Der polnische Jude Samuel Danziger geht zu Boden. Er hat Auschwitz überlebt und wie durch ein Wunder einen Tag vor der Polizeiaktion seine Frau und seine zwei Töchter in der Reinsburgstraße wiedergefunden. Als die Amerikaner die Razzia abbrechen, ist es zu spät. Der Schuss aus einer deutschen Polizeiwaffe hat Samuel Danziger in den Kopf getroffen. Er ist tot. Der Schuldige wird nie ermittelt, der Vorfall in der Stuttgarter Geschichtsschreibung lange vertuscht.

 

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