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Montag, 05. September 2016, 1672. Depesche



 



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Die aktuelle StN-Kolumne:



ABSTOSSENDE KÄLTE

Stuttgart 21 ist zurzeit wieder überregional in den Schlagzeilen: immer negativ. Gelegentlich sah es so aus, als hätten viele Ein­geborene unserer kleinen Gemeinde die Skandale um das „bestgeplante Projekt aller Zeiten“ verdrängt oder geschluckt, nachdem der Landesgottvater verkündet hatte: „Dr Käs isch gesse.“ Ob sich Kretschmann das Zeugs selber einverleibt hat, ist zweifelhaft: Bürger im Kernerviertel beispielsweise klagen seit längerem über derart üble Luftverschmutzungen durch S 21, wie sie nicht einmal die Verdauungsstörungen eines machthungrigen Ministerpräsidenten auslösen könnten.

Stuttgart 21 wird vor allem von denen als Erfolg verkauft, die alle Kritiker seit Jahren als „ewig Gestrige“ abkanzeln, auch wenn sie selber nie von einer kulturellen Entwicklung gestreift wurden. Für diese Art Befürworter ist jeder gegenwärtige Baumurks schon deshalb „modern“, weil er machbar ist und Profite bringt. Auf diese Weise jubeln sie noch jeden, nach DDR-Vorbild mit billigen Serienteilen hochgezogenen, Plattenbau zum „Fortschritt“ hoch.

Bis heute werden sämtliche S-21-Gegner als „Tiefbahnhofsgegner“ abgetan – als hätten sich alle immer nur für die Gleiszahl, die Bahnsteigneigung und die Bahnhofsfeuerwehr interessiert. Im Fall S 21 aber geht es nicht um eine U-Bahnhaltestelle mit integrierter Shopping Mall, sondern um den generellen Umgang mit unserer Stadt – um ihre Zerstörung, um den Verlust ihres Charakters (so weit noch vorhanden). Und in Wahrheit geht es um das Terrain namens Gleisvorfeld. Diese Privatisierung von öffentlichem Grund und Boden, die Spekulation mit Wohnraum, findet vor dem Hintergrund einer großen sozialen Bedrohung statt: Wo und wie können Menschen, die nicht zu den Reichen gehören, noch in Zukunft in unserer Stadt leben? Und wie wird diese Stadt aussehen?

Wer die Zerstörung des Hauptbahnhofs für einen Skandal hält, leidet nicht an Eisenbahnromantik. Bei dieser Barbarei geht Geschichte verloren. Der ohnehin herrschende Abrissfuror verschandelt diese Stadt, nimmt ihr das Gesicht und ihre topografische Einzigartigkeit. Wer den Menschen eine Gegenwart und Zukunft gestalten will, sagen Historiker, lernt am meisten aus den Spuren der Vergangenheit in seiner direkten Umgebung. Diese Auseinandersetzung mit der Geschichte ist wichtiger denn je in einer Gesellschaft, die rechte und rassistische Kräfte zu spalten drohen. Urbanität bedeutet Vielfalt: Raum für ein demokratisches Nebeneinander.

Aber auch mehr als 20 Jahre nach der ersten 21-Planung versuchen Manager und Politiker den Bürgern vorzugaukeln, in Stuttgart werde ein reines Verkehrsprojekt gebaut. Dieser Gedanke ist geradezu komisch: Als würde irgendwer Milliarden investieren, nur um der Bahn-Kundschaft mehr Service zu bieten. Die Automobil-Lobbyisten in den Chefetagen der Deutschen Bahn bauen immer mehr Regional- und Güterverkehr ab. Immer mehr Lastwagen und Fernbusse rollen auf unseren ohnehin kollabierenden Straßen. Die Folgen sind Dreck und Chaos.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Stuttgart 21 wurde anno 1995 nicht auf einer Verkehrsmesse, sondern auf Europas großer Immobilienmesse MIPIM in Cannes präsentiert. Damals verglichen Fachleute laut Pressberichten das S-21-Volumen mit dem „Wiederaufbau Beiruts“ und der „Sanierung Ostberlins“. Die Mär vom Projektschwerpunkt „neuer Bahnhof“ diente auch dazu, Gegner als „Fortschrittsbremsen“ zu verhöhnen. So wollte man gleichzeitig alternative Ideen disqualifizieren.

Wenn der Bundesrechnungshof heute – fünf Jahre nach der Volksabstimmung über 4,5 Milliarden – die S-21-Kosten auf zehn Milliarden hochrechnet, ist der Protest verständlicherweise überschaubar: Welcher Normalverdiener soll sich etwas unter zehntausend Millionen (10 000 000 000) Euro vorstellen, wenn er sich den Kopf zerbricht, ob er künftig noch seine Miete zahlen kann?

Wie die Bürger belogen werden, überschreitet die Grenzen zur Intelligenzbeleidigung. Nehmen wir die Staub- und Dreckschwaden der S-21-Bauarbeiten am Wagenburgtunnel. Der frühere Ministerpräsident Oettinger und der Ex-OB ­Schuster versicherten den Bürgern einst, alle Bauarbeiten würden störungsfrei im Untergrund stattfinden. Und der ehemalige Automanager und spätere Bahnchef Mehdorn füllte seine Sprechblase wie ein Comic-Maulwurf: „Man muss schon seinen Kopf unter einen Gullydeckel stecken, um von den Bauarbeiten überhaupt was mitzubekommen.“ Nicht erst heute fragt man sich, welcher S-21-Verantworliche je seinen Gully verlassen hat, um der Wahrheit etwas Licht zu gönnen.

Nie war ich so naiv, an den Erfolg des Widerstands gegen S 21 zu glauben. Um wie viel Geld es bei diesem Immobilienprojekt geht, haben uns die Polizeitruppen des Schwarzen Donnerstags 2010 gelehrt. Aber auch wenn der Protest heute nicht mehr die Dimension wie vor ein paar Jahren hat, so ist doch unbestritten: Unter den Gegnern gibt es nach wie vor Experten aus Justiz, Architektur und Verkehr, die regelmäßig Fakten über den Baupfusch und die Finanzierungsaffären bei S 21 oder das neue S-Bahn-Fiasko recherchieren und öffentlich machen. Auch das ist der Sinn von Protest.

Wer sich heute, mitten im Abriss- und Mietwahnsinn, weniger für Käsgeschwätz als für die Stadtentwicklung (und die Nebenschauplätze von S 21) interessiert, dem sei ein – im Netz zugänglicher – Essay des Architekten Christoph Mäckler in der „FAZ“ empfohlen. Auszug: „Wenn wir durch die von Planern angepriesenen neuen Stadtviertel hinter den Bahnhöfen von Stuttgart, Zürich oder Frankfurt gehen, die ihre Urbanität und Zukunftsfähigkeit glauben schon mit ihrem Namen ‚Europaviertel’ nachweisen zu können, fröstelt es uns angesichts der abstoßenden Kälte und Langeweile, die uns in den ungefassten Stadträumen entgegenschlägt. Genaugenommen sind es auch keine Stadträume, sondern Resträume, die zwischen den von Architekten geplanten und neuerrichteten Häusern erhalten bleiben, und von Landschafts­planern mit gepflasterten Wegen, Kinderspielgeräten, Bänken, Büschen und Bäumen aufgefüllt werden, damit sie gegenüber dem Bürger in ihrer räumlichen Belanglosigkeit noch irgendwie zu rechtfertigen sind. Diese Europaviertel reichen qualitativ nicht im mindesten an die vormodernen, mehr als hundert Jahre alten Stadtzentren heran.“ - LINK ZUM FAZ-ARTIKEL





 

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