Bauers Depeschen


Samstag, 02. Juli 2016, 1646. Depesche



 

ACHTUNG, DEMO

Am 16. Juli findet angesichts der jüngsten Ereignisse eine Samstagskundgebung gegen Stuttgart 21 auf dem Schlossplatz statt. Beginn 13:30 Uhr. Es reden Winfried Wolf, Hannes Rockenbauch und unsereins. Stefan Siller spricht ein Grußwort, Angelika Linckh moderiert. Musik machen die Trommlergruppe Banda Maruca und das großartige Trio des Akkordeonisten Aleks Maslakov: mitreißender Funk-Jazz.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



DER ANFÄNGER

Seit Tagen geht ein Gespenst um, es heißt Europa, und keiner weiß, was das ist. Eine Woche nach dem Brexit, der politischen Notdurftverrichtung vieler Briten, stiefele ich verwirrt durch die Stadt und suche eine Antwort: Wo, bitte, geht’s nach Europa?

Genau genommen bin ich mir nicht mal sicher, ob ich je in Europa war. Zweifellos habe ich von diesem Kontinent gehört, wohl hat man mir verschiedentlich versichert, selber mittendrin zu leben – im Kopf aber hat sich diese eher auswärtige Angelegenheit nie richtig bei mir eingenistet. Der europäische Geist ist an mir vorbeigeschwirrt, ich habe ihn verscheucht wie eine lästige Hummel. Bis heute esse ich „beim Türken“ und „beim Griechen“, aber nie beim Europäer.

Um die Mittagszeit gehe ich ins Europaviertel. Man kommt in dieser Gegend hinter dem Bahnhof außer an den Glas- und Betonbunkern der Banken an Straßen und Plätzen vorbei, die man in unserer kleinen Gemeinde großkotzig nach Kopenhagen, Oslo, Warschau, Paris oder Mailand benannt hat – lauter Städte, die wohl in Europa liegen. Vor einem zu üppig geratenen Einkaufskomplex sehe ich reichlich Fahnen. Auf dem Platz vor den Shopping-Kästen hat man die Flaggen mannshoch um die hölzernen Baumstützen gewickelt; steif und eckig stehen sie herum wie bestellt und nicht abgeholt – und alle sind schwarz­rot-gold. Sehr schön, denke ich, Frau Merkel & Herr Schäuble werden ihre Freude haben, wenn sie zum Ramschen vor dem Primark anrollen: So sieht Europa aus.

Mit typisch europäischem Esprit hat man das Einkaufszentrum „Milaneo“ ­genannt – wohl deshalb, weil rein gar nix an ihm an Milano erinnert und es dem Volksmund deshalb umso leichter fiel, es in „Müllaneo“ umzutaufen.

Zurzeit gastiert Europa in Frankreich, und warum sollen wir da ausgerechnet im Stuttgarter Europaviertel die Fahnen Frankreichs und Italiens, Portugals oder Polen um die Bäume wickeln. Von Island ganz zu schweigen. Wir müssen unsere ureigenen nationalen Egoismen und unsere nationalistischen Räusche pflegen – auch wenn in einem Stuttgarter Einkaufszentrum sehr viel internationales Publikum reichlich Kohle liegen lässt. Noch aber sind wir im eigenen Land. Das wird man wohl noch sagen dürfen, bevor wir in Frankreich die Spaghettis weghauen.

Als ich durchs Europaviertel gehe, trage ich bereits eine Europatasche mit mir herum: zwölf goldene Sterne auf blauem Grund, seit 1955 die Insignien der Europafahne. Den schönen Einkaufsbeutel hat mir am Vormittag Frau Stefanie Woite-Wehle mit auf den Weg gegeben: Die promovierte Historikerin arbeitet seit 2002 im Europahaus in der Nadlerstraße 4, organisiert Veranstaltungen – politische Gesprächsabende, kulturelle Aktionen, Reisen.

Zufällig und unangemeldet bin ich in ihr Büro gestolpert, werde aber so freundlich behandelt, wie es wohl in etlichen Teilen Europas üblich ist. Wissen Sie, sage ich, da gibt es ein Problem: Mein Europa-Bewusstsein ist eine einzige Katastrophe. Ich fürchte, ich bin nicht nur in einem schwäbischen Kaff, sondern auch ziemlich amerikanisch aufgewachsen. Sie wissen schon: die Negermusik und – sieht man von einer kurzen französischen Phase ab – die Hollywood-Filme, die amerikanischen Romane, die Kunst. Von Europas Gemeinsamkeiten weiß ich kaum mehr, als dass wir mit viel nationalem Gejohle europäische Meisterschaften von Popsängern und Fußballern austragen.

Ja, sagt Frau Woite-Wehle, wir haben da wirklich ein großes Problem. Das Europäische an sich ist nicht richtig greifbar, wir leben keine europäische Solidarität, Europa wird zu einseitig aus dem wirtschaftlichen Blickwinkel betrachtet.

Ich atme auf. Anscheinend bin ich nicht der Einzige, der hierzulande nicht verinnerlicht hat, was Churchill meinte, als er „etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa“ im Auge hatte. Das Desinteresse an einer europäischen Idee hat wohl seine Gründe: Die EU ist ein diffuser Wirtschaftsclub, Europa bis heute nur eine politische Utopie. Und die „Eurovision“ kennen wir nicht etwa als eine Europa-Idee, sondern nur als Funk- und Fernsehgetue.

Tatsächlich bin ich den Briten für ihren virtuosen Brexit-Salto dankbar: Ohne das Tohuwabohu unserer wirren Freunde von der irren Insel wäre ich niemals losgezogen, um Europa zu suchen. Im Europahaus sagt mir die Historikerin, ein europäisches Bewusstsein könne man nur durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte schaffen. Durch hautnahe Erfahrungen. Sie habe vor, sagt sie, Stadtspaziergänge auf den Spuren der Europäer anzubieten, den Menschen die Brücken aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu ­zeigen: Wo finden wir die europäischen Einflüsse in unserer Stadt? Wo sind europäische Spuren sichtbar und erlebbar? Beispielsweise in der Architektur – vor allem aber in den Lebensläufen von Menschen, die ein Europa verkörpern, wie es die meisten von uns nicht kennen.

Vermutlich ist es einfacher und naheliegender – das ist meine Erfahrung als Spaziergänger –, auf die Schnelle die ganze Welt in einer Stadt zu entdecken, als sich irgendwo auf ein Stück Europa zu konzentrieren. Erst beim Blick auf die Geschichte werden wir womöglich begreifen, weshalb Europa und EU zwei verschiedene Dinge sind. Warum sie den Euro meinen, wenn sie Europa sagen.

Die Tage des Europahauses in der Nadlerstraße, 1999 als Beratungszentrum für die Bürger und zur Unterstützung des Schulunterrichts eröffnet, sind übrigens gezählt. Wohl schon Ende des Jahres müssen die sechs festen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umziehen – wie auch die Kollegen des Bäderamts und des Sportamts im Haus. Wohin, wissen sie noch nicht. Das Europahaus in der Nähe des Rathauses muss einem Hotelneubau mit Läden und Bars weichen. Die ganze Gegend wird, so heißt das, „aufgewertet“: Die Stadt macht ihre üblichen Immobilien-Deals.

Als ich jung war, gefiel mir Woody Allens Stadtneurotiker, dieser urkomische Träumer und Verlierer. Heute bin ich ein gealterter Stadt-Eurotiker – und als solcher nur ein komischer Anfänger.



 

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