Bauers Depeschen


Samstag, 11. Juni 2016, 1637. Depesche



 



LIEBE GÄSTE,

ich mache ein paar Tage Ferien, melde mich Mitte/Ende kommender Woche zurück.



FLANEURSALON IM GALERIENHAUS

Am Donnerstag, 14. Juli, ist der Flaneursalon im Galerienhaus Stuttgart, Breitscheidstraße 48. Beginn: 19.30 Uhr. - Es machen mit: Vater & Tochter, nämlich die Musiker Zam Helga und Ella Estrella Tischa, sowie - erstmals - der Dichter und Bühnenkünstler Timo Brunke. Karten gibt es ab kommenden Dienstag, 14. Juni, direkt im Galerienhaus - dienstags bis freitags von 14 Uhr bis 19 Uhr und samstags von 11 Uhr bis 16 Uhr. Galerienhaus: 0711/65 67 70 68. Tickets diesmal 10 € - Jubiläumspreis zum Elfjährigen des Hauses.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



SCHARFE AUSSICHT

Es ist wieder Fußball und das Problem der sinnlosen Zeitverschwendung vorerst gelöst. Wer auch nur vom geringsten Gedanken an das Denken an sich überfallen wird, sollte sich sofort Herbert Grönemeyers Fußball-Lyrik reinziehen. Die offizielle EM-Hymne trägt der deutsche Popstar nicht nur wie gewohnt mit vollendeter Schnappatmung- und Bauchkrampf­Technik vor. Er hat es auch wieder geschafft, einen Songtext von beispielhaft bedrohlicher Sinnlosigkeit zu dichten: „Keine Ungewissheit / Die alles besser weiß / Im Ball der Gefühle / Als Teil der Sinfonie / Alle Gedanken geben auf ...“

Sag ich doch. Frei von Gedanken geben wir uns gänsehäutig großer Reimkunst hin: „Und du hörst den Ruf / Es gibt kein Halten mehr / Das Herz schlägt vor dir her ...“

Kaum hast du deine Pumpe wieder eingefangen, gehst du mit diesem Lied durch die Starkregen-Gewitter unserer täglichen Naturkatastrophen: „Die Luft ist nervös / Sie sticht und glitzert nur / Du gehst mit an die Kante / Zusammen auf weiter Flur / Der Geist fängt die Blitze ...“

Bei diesen Zeilen kippst Du, berauscht von der Poesie, endgültig vom Donnerbalken. Und wenn du schon bis zum Hals im größten Haufen steckst, röchelst du noch wie der große Sänger: „Es sind die wehenden Farben / Für die sich alles lohnt ...“

So sieht’s aus. „Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer“, singe ich mit gewaltigem Vibrato und versuche, durch die Unwetterpfützen in den Hauptbahnhof und zum Gleis 4 vorzudringen. Diese Unternehmung ist gar nicht so einfach in unserer Geisterbahn-Ruine, aber erst muss ich die Vorgeschichte erzählen.

Als ich zum Bahnhof ging, war noch kein Fußball, so dass ich ein gehöriges Unterhaltungs- und Gedankenloch in meinem sinnfreien Leben zu stopfen hatte. Ich wollte auch nicht zu viel Kohle ins Entertainmentgeschäft investieren an diesem Tag, nur einen Zehner oder so. Damit kannst du ins Kino oder ins Museum gehen oder dir einen „Playboy“ samt „Kicker“ kaufen.

Aber man muss es nicht übertreiben mit der Kultur. So spielte ich lieber ein bisschen am Fahrkartenautomat herum und fand heraus, dass du für zehn Euro zwanzig bis nach Böblingen und – was nicht unwichtig ist – auch wieder zurückkommst. Mit wütend vor mir her schlagendem Herzen sang ich mit Grönemeyer noch einmal „Du gehst mit an die Kante“ – und wankte zum Bahnsteig, Gleis 4.

An diesem abgeschiedenen Grusel-Ort im Bahnhofschaos startet meine Gäubahn nach Rottweil über Böblingen. Fast jeder bei uns kennt die uralte Gäubahn, eine der letzten ehrbaren Zugstrecken der Deutschen Bahn. Voraussichtlich wird es sie nicht mehr lange geben. Sie passt nicht ins Konzept einer von Automobilmanagern beherrschten Unterwelt-Bahn. Auf den Gäubahn-Gleisen bis du ein entschleunigt reisender Mensch, ein Fortschrittsbremser auf dem Weg zu dir selbst. Keiner der Typen, die mit dem Laptop vor der Nase im Affentempo von A nach B gekarrt werden und dennoch zu spät kommen, weil die Bahn nicht pünktlich fährt. Mit der Berg- und Talbahn reist du sogar durch deine eigene Stadt – und siehst auf einer Panoramtour, wo du lebst. Auch wenn das nicht immer ein guter Anblick ist.

Entlang der Banken- und Müllaneo­-Kästen zum Nordbahnhof, und weiter in den Westen. Richtung Hasenbergtunnel. Am Westbahnhof, wo heute nur noch Busse halten, fahren wir am Stellwerk-West vorbei, dem alten Hexenmeister-Häuschen, in dem einst der legendäre Grafikdesigner und Typograf, Schriftsteller und Lebensberater Kurt Weidemann sein Atelier mit eingebauter Bierleitung hatte. „Gut zuhören; scharf nachdenken; lange nichts sagen“, war seine Devise. Im März 2011 ist er im besten Alter von 88 Jahren gestorben. Das Stellwerk steht heute wie ein Denkmal für ihn.

Vorwärts, freie Sicht auf Heslach und Kaltental, wir rollen durch den Dachswald nach Vaihingen und Rohr, bevor wir durch ein ausgedehntes Waldgebiet in aller Ruhe Böblingen ansteuern. Diese Tour, die sich ausbauen lässt bis Rottweil, sollte man sich hin und wieder gönnen, solange es noch geht. Die Gäubahn, das merken wir auf der Rückfahrt, lehrt uns etwas über das Ankommen in der Stadt, über ihr Entree, ihre Willkommenskultur, ihren Charakter.

Das Wort „Gäu“ steht für eine Landschaftskultur, wie man sie in unseren Regionen findet. Das Wort selbst ist die schwäbische Version von „Gau“ (wie Landschaft), laut Wikipedia leitet es sich ab von „der ur-indogermanischen Wurzel ghew“ – und bedeutet so viel wie „gähnen“.

Damit sind wir in Böblingen. Die Ankunft an einem zur bloßen Haltestelle verkommenen Bahnhof ist immer deprimierend. Man könnte auf die Idee kommen, vor lauter Sinnleere Grönemeyers „Jeder für jeden“ zu singen. Dann geht es durch die Unter­führung zum Bahnhofsvorplatz und der sogenannten Böblinger Meile, sprich Fußgängerzone. Erst vor zwei Jahren hat man vor dem Bahnhof ein Einkaufszentrum eröffnet, architektonisch eine Art Festung mit selt­samer rostbrauner Fassade. Das monströse Bauwerk heißt „Mercaden“ – ein Name, den die Kundschaft so ähnlich von ihren Mallorca-Ausflügen kennt. Weil ich aufs Klo muss, schaue ich mir das Ding auch von innen an, was meinen Entertainment- und Reiseetat um 70 Cent erhöht.

Ich muss dazu nichts Weiteres sagen. Shopping-Center sind Konsumhochbunker, wie sie seit Jahrzehnten überall ähnlich haltungslos herumstehen, auch wenn man bei ihrer Eröffnung in jedem Kaff so tut, als handle es sich um eine Weltsensation. Entsprechend zerstören diese austauschbaren Dinger auch in größeren Städten die gewachsene Urbanität.

Wie man den Käufer listig verführt, zeigt uns ein kleines Geschäft vor dem Einkaufsklotz: Da verspricht uns die Firma „Chilioptik“ in einem Atemzug „scharf sehen, noch schärfer aussehen“ – und „scharfe Aussichten“. Mit dieser Verheißung geht’s zurück zur Gäubahn. Sobald es auf der Heimreise draußen dunkel wird, singe ich mit Grönemeyer: „Der Geist fängt die Blitze / Im Tunnel unter Strom.“

Und dann sind wir schon wieder zwischen den Löchern, die mal ein Einkaufstunnel mit Eisenbahnhaltestelle werden sollen.



 

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