Bauers Depeschen


Samstag, 21. Mai 2016, 1630. Depesche



 



LIEBE GÄSTE,

nicht wundern, wenn ich zurzeit keine Flaneursalon-Termine ankündige. Es gibt keine. Ganz bewusst. Wahrscheinlich machen wir Mitte Juli eine kleine Sache in Marko Schachers Raum für Kunst im Stuttgarter Galeriehaus West. Im Herbst und Dezember tut sich wieder was, und bis dahin gibt es sicher noch einiges zu tun. Am 13. Juni z. B. bin ich als Vorleser in Arnulf Ratings Berliner Mixed-Show "Blauer Montag" dabei. Fußball-EM ist dann auch schon - undsofort.

Ein wenig schade ist, wenn der Raum hier zur bloßen Kolumnen- und Terminplattform verkommt. Vielleicht muss er mehr Platz bieten für Dinge, die nicht in der Zeitung stehen. Es entspräche der Haltungslosigkeit der Mitläufer, sich um nichts zu kümmern, weil man sich selbst genug ist.



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LIED DES TAGES



HEIMAT

Weiß nicht mehr, wann genau es war in diesem Jahr. Jedenfalls schien mir, als käme der Sommer. Zügig fuhr ich mit der Straßenbahn zum Berliner Platz, der in Wahrheit kein Platz, sondern eine tödliche Fußgängerfalle im Schienen- und Straßenchaos ist. Zu Fuß rasch weiter ins Hospitalviertel. Bis heute habe ich die Hoffnung, eines Tages könnte in der Innenstadt so etwas wie ein Ort mit Leben entstehen, den man zu recht Viertel nennen darf. Und da gibt es einen Lichtblick: Mit dem Neuen Hospitalhof, diesem hellen, leuchtenden Ziegelsteingebäude, ist endlich mal etwas Charakter- und Würdevolles, etwas Weiterführendes Richtung Zentrum entstanden. Ein architektonisches Zeichen wider die ranzigen Neubaukästen, die das Stadtbild verstümmeln.

Als ich nach meiner ersten Hospitalhof-Runde ein paar Zeilen loswerden wollte, wurde es schon wieder so kalt und nass in der Stadt, dass ich mich nicht traute, einen Spaziergang über den neuen Hospitalhofplatz zu empfehlen – auch wenn ich einigen Leuten jederzeit eine kalte Dusche zum Aufwachen gönne.

Gestern sah der Himmel dann wesentlich besser aus, dennoch fasse ich mich vorsichtshalber kurz: Es gibt auf dem Hospitalhofplatz inzwischen ein paar Versorgungsstätten, beispielsweise eine Bäckerei mit Sitznischen, die bald Café am Hospitalhof heißen wird, eine Pasta-Baby-Filiale und den Mexikaner Burreatos, der den Zeitgeist verschluckt hat: „Tasty. Healthy. Hip. The Thing you want“, steht an der Wand – das leckere, gesunde, vollgeilhippe Dingsbums, auf das du scharf bist.

Rings um den Hospitalhof zwischen Gymnasium- und Büchsenstraße ist auch was los: Nicht nur heimische Satire-Opfer kennen La Commedia, das großräumige Restaurant mit Straßenbewirtung im Renitenztheater. Damit lasse ich es für heute gut sein und fordere Sie zu Selbstversuchen bei der Heimat-Erkundung auf.

Auf den ersten Blick mag es nichts mit unserer Stadt im Kessel zu tun haben, dennoch ist es mir ein Bedürfnis, heute darauf hinzuweisen: Am Dienstag ist die Hamburger Schriftstellerin und Satirikerin Fanny Müller mit 74 Jahren gestorben. Zur Erinnerung an diese einzigartige Autorin skurriler Stadtviertel-Miniaturen empfehle ich allen Stadtmenschen, sich um die eigene Achse zu drehen, bevor sie zur Eroberung der Welt aufbrechen. Dazu ein paar Sätze aus Fanny Müllers Geschichte „So bunt, so multikulturell“: „Genau zwanzigmal bin ich bisher umgezogen, allein sechsmal, bevor ich zwölf Jahre alt war. Jetzt habe ich seit vierzehn Jahren dieselbe Adresse, sie muss dann wohl die Heimat sein – Heimat ist da, wo man mehr als einmal renoviert hat. Zum Beispiel. In Wirklichkeit ist Heimat natürlich kein Ort; Heimat sind Leute, zu denen man zu Fuß gehen kann und bei denen man dann einfach nur rumsitzt und nicht geistreich sein muss.“

Fanny Müller wohnte im bunten, sozial und politisch umkämpften Hamburger Schanzenviertel. Sie schrieb auf, warum sie so hartnäckig in ihrer „Schanze“ blieb: „Es wird wohl so sein: Ich werde nicht gern überrascht. In diesem Viertel zeigt sich früher als anderswo, was auf uns zukommt – die Sorte Elend und die Sorte Schicksein, mit der wir es zunehmend zu tun haben werden, aber auch alles dazwischen. Vielleicht, aber nur ganz vielleicht, geht von hier auch etwas anderes los, Sie wissen schon. Das wäre dann Heimat, Leute. Und ich werd’s wohl nicht mehr mitkriegen.“

Für unsereins ist Heimat kein Viertel, weil ich ja kein richtiges habe, sondern das, was ich fühle, rieche und höre, wenn ich in der Stadt herumziehe – ohne geistreich zu sein. Heimat ist für mich, vor einem Supermarkt mit der Aufschrift „Polnische Spezialitäten Lukullus“ zu stehen, nur 17 Minuten von der U-Bahnstation Charlottenplatz entfernt, aber ohne den geringsten Schimmer, wo ich bin. Gut, in diesem Fall, man hat es mir gesagt, bin ich in Rot, einem Stadtteil des Bezirks Zuffenhausen, in dem insgesamt 35 000 Menschen leben, von denen ich womöglich keine 3,5 kenne. Ich gehe in den Laden, in dem es polnische Graupenwürste, polnisches Bier der Sorte Zywiec und polnische Zeitungen gibt, und kaufe mir italienische Zabaione original aus Polen. An der Kasse sitzt eine junge, hübsche, blonde Frau, wie sie normalerweise nur in Hollywood-Märchen an der Kasse sitzt, und als ich sie frage, ob es in der Gegend viele Polen gebe, sagt sie: „Ja, aber die Polen im Ausland verstecken sich gern.“

In Rot, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg Geflüchtete und Heimkehrer niederließen, geht es seit jeher um Heimat, wie überhaupt in Zuffenhausen, wo der Porsche herkommt. Viele Menschen im Ort fürchten jetzt zu Recht, ihre Heimat zu verlieren. Die Baugenossenschaft Neues Heim will in der Fleiner Straße in der Nähe des Lukullus-Markts Häuser mit 60 Wohnungen abreißen, weitere 40 SWSG-Wohnungen sollen in der Roter Fürfelderstraße Häusern mit weit höheren Mieten weichen.

Ähnliche Abrisspläne haben die SWSG für die Keltersiedlung im Zentrum von Zuffenhausen und die Baugenossenschaft Zuffenhausen im Bereich Stammheimer Straße. In dieser Ecke, wegen seiner einst linken Aktivisten bis heute „Kommunistensiedlung“ genannt, schaut gerade Frau H. aus dem Fenster, als ich mich umsehe. 1940, erzählt sie, ist sie in dem Haus, in dem sie heute lebt, geboren. Ihre Mutter ist in der Keltersiedlung aufgewachsen, in der Langenburger Straße, in der bald viele Häuser abgerissen werden sollen. Auch in diesem Quartier stiefle ich herum und plaudere mit Leuten, die nicht bereit sind, ihre Heimat kampflos aufzugeben. In ihre Fenster haben sie Schilder gehängt: „Wir bleiben hier – kein Abriss unserer Häuser“.

Vielleicht geht, im Sinne Fanny Müllers, auch von hier etwas los, das noch viele von uns mitkriegen können. Und bald fahre ich wieder nach Zuffenhausen, bevor ich mir den Geruch der Heimat beim Mexikaner am Hospitalhof gönne.



 

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