Bauers Depeschen


Dienstag, 03. Mai 2016, 1625. Depesche

 

LIEBE GÄSTE,

ich mache ein paar Tage Ferien, außerbetriebliche Fortbildung - und melde mich kommende Woche wieder. Am Freitag, 6. Mai, ist der Flaneursalon im Freien Theater Bad Liebenzell. Mit Zam Helga, Ella Estrella Tischa, Michael Gaedt. Am Tag zuvor ist Himmelfahrt - also Zeit für einen Abenteuerausflug in die Untiefen und Abgründe des Schwarzwalds. Hier gibt's Karten: FREIES THEATER.



Der Klick zum

LIED DES TAGES



Hier etwas aus meinen Beständen:



DER APOTHEKER

Mit meinem Klapprechner, den ich zur Freude einiger Leser früher Fink genannt habe, stiefelte ich durch die Stadt und suchte einen Platz zum Aufwärmen. Die Stadt im frühen März war so kalt, dass ich bald die Hoffnung aufgab, irgendwo drinnen könnte es wärmer sein als draußen. Und weil ich in einem Alter bin, wo man vor dem Bett neben den "Rolling Stone" und "Titanic" die "Apotheken Umschau" legt, ging ich in eine Apotheke. Das war weit im Westen der Stadt. Ich verlangte Aspirin Complex, Schnupfenspray mit 24-Stunden-Wirkung und 1000 Jodtabletten.

Ich plauderte eine Weile mit dem Apotheker, den ich nie zuvor gesehen hatte. Er hatte weiße Haare, wache Augen und vermutlich einige Jahre vor mir die "Apotheken Umschau" neben den "Rolling Stone" gelegt. Wir sprachen über die Machenschaften der Pharmaindustrie, und er erzählte, wie er neulich Geld für Medikamente an einen US-Konzern überweisen musste, obwohl er für die gleichen Pillen noch wenige Tage zuvor die Rechnung bei einer deutschen Firma bezahlt hatte. "Der große Tiger frisst alles", sagte er und führte seine Hände zum Mund. "Ja", sagte ich, "alles gehört heute denselben Banditen." "Da haben Sie recht", sagte der Apotheker, "überall das gleiche Lumpenpack. Ich sage Ihnen: Die stecken alle unter einer Decke."

Der Mann war mir auf Anhieb sympathisch, auch weil ich den Ausdruck "Lumpenpack" seit Jahren nicht gehört hatte. Das Wort klingt erregend und vertraut, wie Scherenschleifer, Halbdackel oder Kuttenbrunzer.

Nachdem wir drei Minuten lang das organisierte Verbrechen in China, Kalifornien und im Stuttgarter Landtag beleuchtet hatten, gab mir der Apotheker den Kassenbon. Neunundzwanzig Euro fünf. Ich legte dreißig Euro auf den Tisch, der Apotheker schob sie in die Kassse - und gab mir zwei Euro zurück. Als ich ihn verwundert anschaute, sagte er: "Wir runden heute ab auf achtundzwanzig Euro. Denn endlich habe ich einen gefunden, der die gleiche Gesinnung hat wie ich."

Ich bedankte mich überschwänglich, griff die neu "Apotheken Umschau" und ging herzerwärmt hinaus in die Kälte. Nie zuvor hatte ich im Pharmageschäft von einem Gesinnungsbonus gehört.

Ich stieg in die Bahn Richtung Stadtmitte, kaute auf einer Ladung Jodtabletten und blätterte müde in der brandneuen "Apotheken Umschau" - bis ich auf einen Bericht stieß, der mich besser aufputschte als jede Aspirin Complex. Der Text handelte von den Orientierungsproblemen des Menschen.

Seit ich lebe, habe ich enorme Schwierigkeiten, mich in der Welt zurechtzufinden, wenigstens im fünften Versuch die richtige Straße zu finden. Die Ursache des Problems, erfuhr ich aus dem Artikel der "Apotheken Umschau", ist mehr oder weniger ein Todesurteil für jeden digitalisierten Deppen unserer Zeit. Experten haben nämlich herausgefunden, "dass der regelmäßige Gebrauch von Navigationsgeräten den Orientierungssinn verkümmern lässt".

Ich wusste Becheid und war geschockt. Nur wenige Tage zuvor war es mir nur mithilfe meines Taschentelefons gelungen, Name und Standort eines Frankfurter Cafés zu ermitteln, in dem ich gerade Kartoffelsuppe mit Wiener Würstchen verspeiste. Sei jeher leide ich an katastrophaler Orientierungslosigkeit. Allein deshalb habe ich Stuttgart nie verlassen. Noch heute kommt es vor, dass ich mich in meiner Nachbarschaft verlaufe. Es gab sogar Zeiten, da habe ich tage- und nächtelang nicht nach Hause gefunden. Nicht einmal mit dem Taxi.

Der Artikel in der "Apotheken Umschau" hieß "Kompass im Kopf" und förderte die bisher wichtigeste Erkenntnis der menschlichen Richtungssuche zu Tage: "Da das Auge eine herausragende Rolle spielt, tun sich blinde Menschen grundsätzlich mit der Orientierung schwer."

So präzise hatte das noch keiner gesagt. Jetzt erst wurde mir mein Handicap bewusst. Ich begriff, warum etwas nicht stimmt mit meinem Kompass im Kopf: Gott hat vergessen, die Nadel einzubauen.

Kaum aus der U-Ebene aufgetaucht, sah ich in der Eberhardstraße einen Computerladen, und ich war mich sicher, dass an dieser Stelle noch kurz zuvor ein Waffengeschäft für Luftgewehre, Schmetterlingsmesser und Pfefferspray geöffnet hatte. Könnte sein, dass ich vor dem Geschäft eine Wahrnehmungsstörung erlitten hatte, weil als härteste und blutigste Waffe heute der Computer gilt, er richtet mehr Schaden an als jede Kalaschnikow. Zwar behaupten die Amerikaner bis heute, der Klapprechner sei dem Kriegsbeil überlegen. Wir wissen es allerdings besser seit Vietnam, Afghanistan und Avatar in 3 D.

Sobald mein Schnupfen auskuriert ist, werde ich mir eine neue Krankheit zulegen und erneut den weisen Apotheker aufsuchen. Der Apotheker und ich werden so viel über die heutigen Politik-Mafiosi zu reden haben, dass sich meine Medikamentenrechnung bei null einpendeln dürfte.

Allerdings gibt es inzwischen ein Problem: Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Apotheke wiederfinden könnte. Der Laden war verdammt tief im Westen, ich kann mich nicht an die Adresse erinnern, auch nicht an den Namen der Apotheke. Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als wildfremde Leute in den Straßen zu fragen, ob jemand den weisen Apotheker vom Westen kennt. Ich muss ihn finden, werde ich sagen, er ist der letzte Mann mit einem Kompass im Kopf. Helfen Sie mir, ich suche den Mann, der als einziger weiß, wo das verfluchte Lumpenpack unter einer Decke steckt.

Nachtrag: Ein Jahr, nachdem ich in diesen Text geschrieben hatte, erhielt ich anonym einen Brief, ich möge doch bitte zur Beerdigung kommen. Mein Apotheker sei gestorben.

 

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