Bauers Depeschen


Dienstag, 24. November 2015, 1555. Depesche



LETZTER FLANEURSALON 2015: Dienstag, 15. Dezember, Schlesinger. Mit Eric Gauthier & Jens-Peter Abele, Eva Leticia Padilla. Durch den Abend führt mal wieder Michael Gaedt. Der Abend ist ausverkauft.



MEIN NEUES BUCH gibt es im Handel und an der Mahnwache gegenüber vom Hauptbahnhof: "In Stiefeln durch Stuttgart - Zwischen Komakäufern und Rebellen".



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne "Joe Bauer in der Stadt"



WO DIE SONNE TANZT

Eine Woche lang war ich nicht in der Stadt. Als ich aus der Sonne zurückkam, schneite es, was nicht weiter auffiel, weil sich inzwischen die Welt verändert hatte.

Viele Leute tragen ein „Weltbild“ mit sich herum. Ich besitze keins, weil ich die Welt nicht kenne. Dafür gehört mir seit vergangenem Sommer ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Bild, auf dem der französische Sänger, Schauspieler und Schriftsteller Serge Gainsbourg und die britische Sängerin/ Schauspielerin Jane Birkin zu sehen sind. Sie haben es sich auf einer Lederliege neben Schallplatten und Büchern bequem gemacht. Jane Birkin ist barfuß und trägt ein sehr kurzes Kleid, von Serge Gainsbourg sind nur der Kopf und die linke Hand mit der Zigarette zu sehen. Für mich ich das ein Weltbild. Fotografiert von Reg Lancaster, erworben beim englischen Foto-Galeristen Duncan Smith in der Stuttgarter Senefelderstraße.

Das Foto hing schon einige Tage in meiner Wohnung, da fiel mir auf, dass etwas fehlte. Ich brauchte die Musik zu diesem Bild. Wenn ich schon die Welt nicht kenne, so habe ich doch Anspruch auf etwas Kopfkino. Bei Second Hand Records in der Leuschnerstraße fand ich ein US-Original des Vinyl-Albums „Beautiful Love“ von Jane Birkin und Serge Gainsbourg mit dem unsterblichen Lied „Je t'aime … Moi non plus“. Über dieses Chanson mit seiner erregenden Atemtechnik zur Symbolisierung des globalen Geschlechtsakts ließe sich ein Buch schreiben, ich beschränke mich mit Rücksicht auf den prüden Rest der Welt aufs Nötigste. Gainsbourg hatte den Song, der das Stöhnen als Stilmittel perfektionierte, zunächst 1967 mit Brigitte Bardot aufgenommen. Die aber war gerade mit Gunter Sachs zusammen und bat mit Rücksicht auf die Moral des deutschen Playboys, die Nummer aus dem Verkehr zu ziehen. Gainsbourg ließ 40 000 Singles vernichten und spielte das Lied noch mal mit Jane Birkin ein. Als es 1969 erschien, war ich fünfzehn und im Sexgeschäft noch ziemlich handgestrickt. Auf der amerikanischen Plattenhülle ist zu lesen, das Stöhnen und der Text von „Je t'aime … Moi non plus“ hätten das „Establishment“ zu Tode erschreckt.

Was für ein schöner Tod.

Den Liedtitel mit dem Zusatz „Moi non plus“ soll Gainsbourg nach einem Satz des Malers Dalí über den Kollegen Picasso gewählt haben: „Picasso ist Spanier, ich auch. Picasso ist ein Genie, ich auch. Picasso ist Kommunist – ich auch nicht.“

Als ich morgens um fünf zu einem Ausflug nach Athen aufbrach, beherrschte bereits der islamistische Terroranschlag vom Vorabend in Paris die Nachrichten. Auf dem Weg zum Flughafen ging mir Jacques Dutroncs Sechzigerjahre-Chanson „Paris s'éveille“ durch den Kopf: „Es ist fünf Uhr, Paris erwacht ...“ Stunden später sah ich im Internet die Sprechblase von Joann Sfar: Der Zeichner der Pariser Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ teilte der Welt auf Englisch mit, die Menschen von Frankreich vertrauten nach dem Anschlag in „Musik!“ In „Küsse!“ Ins „Leben ...“ Das klang für mich nach Jane Birkin & Serge Gainsbourg.

Mit Liedern verreist man oft weiter als mit dem Flugzeug. Da zu einer hilfreichen Betrachtung des Terroranschlags von Paris mein Weltbild eh nicht ausreicht, halte ich es für vernünftiger, ein Lied zu hören – und Mandarinen zu essen wie der Komiker Helge Schneider. Viele in diesen Tagen brauchen keine Mandarinen. Sie haben die Weisheit mit Löffeln gefressen.

Drei Tage nach meiner Ankunft in Athen demonstrierten rund um den Syntagmaplatz zigtausend Menschen, darunter viele junge Linke, wie sie im bunten Stadtteil Exarchia zu Hause sind. Es war der 17. November, der Gedenktag an den Athener Studentenaufstand: Die griechische Militärdiktatur hatte die Revolte am 17. November 1973 blutig niedergeschlagen, mindestens 23 Studenten mussten ihr Leben lassen.

Damals war ich neunzehn, es gab bei uns längst griechische Kneipen, und als ich jetzt in Athen die Fahnen sah, fiel mir ein seit Jahrzehnten nicht mehr gehörtes Lied von Franz-Josef Degenhardt ein: „Für Mikis Theodorakis“. Den Refrain habe ich seltsamerweise bis heute im Kopf: „Jener Tag, / an dem die Sonne tanzt, / Roter Tag der Freiheit in Athen, / Jener Tag, an dem wir auf den Straßen tanzen / und uns wiedersehen.“ Ein Jahr nach dem Aufstand war das Ende der griechischen Junta besiegelt.

Beim Spaziergang durch Exarchia fand ich in einem Plattenladen ein französisches Original von Bob Dylans legendärem Album „Highway 61 Revisited“, erschienen vor 50 Jahren. Alle Songtexte der Platte werden auf der Innenhülle kurz auf Französisch erklärt. Zu „Like A Rolling Stone“ heißt es: „Diese schöne Ballade erzählt die Geschichte einer Frau, die mal reich war … Sie machte sich über die Armen lustig, über die Vagabunden und über die, die sagten: ,Pass auf dich auf, Puppe, du wirst fallen' … Später erfuhr die Frau Verwahrlosung und Hunger am eigenen Leib … Der Refrain lautet: ,Wie fühlt es sich an, auf sich selbst gestellt zu sein – ohne ein Zuhause – keiner kennt dich – une pierre qui roule … like a rolling stone ...'“

In Athen las ich in der deutschsprachigen „Griechenland-Zeitung“ von einer Diskussion im Stuttgarter Kunstgebäude zum Thema „Zukunft Griechenlands – Zukunft Europas“. In derselben Ausgabe ist ein Zitat des Philosophen Antisthenes (445 bis 365 vor Christus) abgedruckt: „Wer die anderen fürchtet, verwandelt sich unmerklich in einen Sklaven.“

Gegen die Furcht werde ich mir Songs von Serge Gainsbourg und Jane Birkin anhören, ihr Foto anschauen und eine Mandarine nach der anderen vernaschen.



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