Bauers Depeschen


Samstag, 07. November 2015, 1547. Depesche



 



MEIN NEUER Kolumnen-Band "In Stiefeln durch Stuttgart" ist außer im Buchhandel jetzt auch an der Mahnwache gegenüber vom Hauptbahnhof und am Bücherstand der Montagsdemo gegen S21 erhältlich. Der Käufer unterstützt in diesem Fall die Verkäufer - nicht mich.



LETZTER FLANEURSALON des Jahres am Dienstag, 15. Dezember, im Schlesinger. Eric Gauthier, Eva Leticia Padilla, Michaeld Gaedt. Karten gibt es bereits in der Kneipe.



Video-Bilder: DIE NACHT DER LIEDER 2014

(Die Shows im Dezember 2015 sind so gut wie ausverkauft)



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



VON RATZEPUTZ UND ROBINSON

Guten Tag, Wanderer, heute widme ich mich dem internationalen Stuttgart, einer schwäbischen Stadt im deutschen Südwesten mit ­Menschen aus sehr vielen Nationen. Meine ­Betrachtung hat nichts zu tun mit dem „internationalen Stuttgart“, das politisch und wirtschaftlich motivierte Großmannssüchtige im Auge haben, wenn sie die schwäbische Stadt im deutschen Südwesten zur Weltstadt hochjubeln wollen.

Neulich habe ich Ihnen von meinem ­vierköpfigen Männerverein erzählt, der sich jede Woche zum Mittagessen in einem Lokal der Stadt trifft, das wir noch nie oder schon lange nicht mehr betreten haben. Inzwischen landeten wir wie jeder Einheimische in den Filialen unserer üblichen gastronomischen Nachbarländer Italien, Griechenland, ­Korea. Wir waren auch schnell in ­Portugal, wo wir im Lusitana in der Urachstraße in Ostheim guten Bacalhau (auch als Bacalao bekannten Stockfisch) verzehrten. Früher hieß das Lokal mal „Rauchfang“.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Unser Männerverein wandelt nicht auf den Spuren von Gastro-Führern, wir ziehen nur ein wenig herum, um die Stadt besser ­kennenzulernen. Auf unserer Weltreise landen wir hie und da auch im exotischen Revier schwäbischer Eingeborener, beispielsweise in der Alten Hupe. Dieses Gasthaus in der Heslacher Adlerstraße muss man nicht nur wegen seines Namens lieben. Auch das ­Essen in der Alten Hupe ist Musik.

Und weil uns nun mal die Neugier ­umtreibt, besuchten wir auch das neue ­Gänsefüße-Lokal H’ugo’s im Büroklotz City Gate, Friedrichstraße. Das Essen ­dieses Event-Ladens für Lamborghini-Terroristen und Trüffel-Pizza-Wichtigs war gut – und überraschend günstig. Beim Blick auf die Bar, eigentlich das Heiligtum der Trink-Kultur, bekam ich allerdings Sodbrennen. Die Hugos glotzen auf Flachbildschirme mit virtuellem Kaminfeuer (Rauchfang für ­Arme), während sie auf den mehr als merkwürdigen Korbhockern an der Bar sitzen; diese zweifarbigen Dinger wirken so stilvoll wie rosa Schleifchen an den Felgen eines Porsche 911.

Weiter, diesmal wieder in den Osten. Unser jüngster Ausflug führt uns im 42er Bus zur Haltestelle Libanonstraße, bevor es hinaufgeht ins herrlich gelegene Reich des Kleingärtnervereins Raichberg. Jeder kennt vermutlich das SPD-Waldheim Raichberg, es ist ja weitaus bekannter als die Stuttgarter SPD. In der Kneipe der Kleingärtner aber war ich zuvor nie. Auf dem ­Gelände an den Hängen über der Stadt stehen reichlich Fahnenmasten, an diesem Tag wehen nur die Farben von Italien, Polen, Deutschland. Es gibt ja gerade kein internationales Fußballturnier zu beflaggen.

Chefin der kleinen Vereinsgaststätte ist eine gestandene Frau, die bei allen nur Gabi heißt. Meine Vereinskameraden, routinierte Kapuzenjackenträger, schwärmen von ­Gabis paniertem Schnitzel. Unsereins ­bestellt Wildschwein, weil es zurzeit zwar unendlich viele Wildschweine in den ­Wäldern zum Schießen, aber nicht überall eins zu essen gibt. Die kleine Kneipe heißt „Ratze“. ­Früher, erzählt Gabi, hätten sich die Kleingärtner liebend gern mit Ingwerschnaps der Marke Ratzeputz zugegossen. Daher der Name – ­wobei man wissen muss, dass Ratzeputz einmal ziemlich harter Stoff war. Noch heute enthält selbst die entschärfte Version 58 ­Prozent Alkohol.

Zurück ins Tal. Wie das Leben spielt, lande ich in Ostheim vor der Raichberg-Realschule, gleich neben dem Leo-Vetter-Bad. In der Turnhalle sind seit kurzem mehr als hundert Geflüchtete unter­gebracht, überwiegend syrische Familien. Namen sind unwichtig. Die drei Sicherheitsleute am Eingang nenne ich Griechenland, Syrien und Somalia. Auch ein Übersetzer stellt sich vor, sagen wir: Herr Sudan.

Zurzeit geht es in der Politik nur noch darum, auf welche Art man die Geflüchteten ins Land lässt oder am besten gleich wieder hinauswirft. Kaum Gedanken ­machen sie sich darüber, wie man mit den ­Menschen umgeht, die längst da sind. Die Probleme sind nicht gelöst, wenn Schlafstellen in Turnhallen hergerichtet und Zelte aufgestellt werden. Die Leute brauchen Begegnungsstätten, Orte, an denen sie mit Menschen außerhalb der Unterkünfte sprechen und unsere Sprache lernen können. In vielen Städten gibt es ehrenamtlich betreute Sprach-Cafés: ­Räume, in denen Geflüchtete und Ein­heimische das Miteinander üben, Vorurteile ­abbauen, Gemeinsamkeiten ­entdecken. (Auch in Ostheim tut sich was in dieser ­Richtung, davon ein andermal.)

Mit einem Jungen aus der Turnhalle und einer Helferin, ich nenne sie Frau Argentinien, gehe ich zum Ostendplatz, um was zu besorgen. Der Junge spricht kein Wort Deutsch oder Englisch. Eine andere, in der Sache erfahrene Frau hatte mich neulich auf die Begegnung mit einem Fremden per Schnellkurs eingestellt: „Du kennst doch Robinson Crusoe“, hat sie gesagt. „Gut, dann kennst du auch die Methode, eine Sprache zu lernen.“ Nämlich so: „Ich ­Robinson“ (mein Finger zeigt auf mich) – „du Freitag“ (mein Finger zeigt auf den Fremden). Damit kommen wir erst mal klar, auch wenn der syrische Junge inzwischen nicht Freitag, sondern nach wie vor Osama heißt. Ich taufe ihn Schuhgröße 45.

Unser kurzer Bummel gestaltet sich im wahrsten Sinne des Wortes komisch, ­nämlich lustig. Das erinnert mich an einen Freund, der neulich in einer anderen Turnhalle aus dem Stand sehr professionell eine Henne mimte: Er musste den Geflüchteten mitteilen, dass die Wurst an der ­Essensausgabe nicht vom Schwein ist, ­sondern von der Pute. Aber gut, der Mann spielte früher mal den Bürgermeister in einer Fernsehserie. Da wird er verdammt noch mal artgerecht gackern können.

Muss Ihnen am Ende noch mitteilen, was ich gelernt habe: Wir müssen schnell ­lernen, wie man was lernt. Das sind wir dem internationalen Stuttgart schuldig.



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