Bauers Depeschen


Dienstag, 14. August 2012, 962. Depesche

FLANEURSALON LIVE

Unsere nächste Lieder- und Geschichtenshow findet am Dienstag, 25. September, statt - im Club Speakeasy, Rotebühlplatz 11. Auf die Bühne gehen der Rapper Toba Borke und sein Beatboxer Pheel, der Sänger/Songschreiber Zam Helga sowie die Sängerin Dacia Bridges mit ihrem Gitarristen (unsereins ist auch dabei). Beginn 20.30 Uhr. Ein Team des SWR-Fernsehens wird an diesem Abend Szenen für einen "Nachtkultur"-Beitrag über den Flaneursalon drehen, und es wäre schön, wenn der Laden voll wäre. Karten gibt es für 12 Euro. Mit diesem Sonderpreis unterstützen wir im Speakeasy die Veranstaltungsreihe "Petit Séjour" mit Stuttgarter Künstlern. Vorverkauf im Plattenladen Ratzer Records / Leonhardsviertel (neben dem Brunnenwirt). Außerdem gibt es Tickets im Internet: EVENTBÜRO



SOUNDTRACK DES TAGES



Erinnerung an ein eine seltsame Stadt:



OBEN IST DIE LIEBE

Es war im Jahr 2011, als zwei junge Herren zu mir kamen mit der sonderbaren Bitte, ich solle für sie in die Z u k u n f t und von dort in die Gegenwart schauen. Damals war ich seit fast vierzig Jahren als Zeitungsmensch tätig, und seltsamerweise hatten die beiden jungen Herren vor, sich ebenfalls in diesem Gewerbe durchzuschlagen.

Ich wies sie darauf hin, dass Zeitungsschreiber heute kaum mehr Überlebenschancen hätten als Pferdekutscher, Elefantenjäger oder FDP-Politiker. Diese Einschätzung gelte für Zeitungsschreiber selbst dann, wenn sie wie andere Dynamiker glaubten, der Plan, sich die Zukunft zu unterwerfen, habe etwas mit Fortschrittlichkeit zu tun. Diesem Irrtum seien schon viele Menschen aufgesessen, vorzugsweise in Stuttgart, wo es bekanntlich nicht einfach sei, in die Ferne zu schauen, da die meisten nicht merkten, dass sie unter vielen Zwergen hinter vielen Hügeln lebten.

Nicht umsonst hat man in der Stuttgarter Altstadt, wo früher die guten Jungs und die bösen Mädels ihr Unwesen trieben, nicht nur einen Bierbauch als "Kessel" bezeichnet, sondern auch den Knast. In Stuttgart scheint der Kessel negativ besetzt zu sein, ausgerechnet in einer Stadt, die nichts Besseres zu bieten hat als ihre famose Kessellage. Jeder Zeitungsschreiber, sagte ich den jungen Herren, müsse zuerst die Ränder des Kessels riechen, bevor er das Wort Stuttgart in seinen Computer tippe.

Die jungen Herren, die sich im Glauben an mich gewandt hatten, jeder dahergelaufene Lokalredakteur könne Science-Fiction schreiben, wenn man es ihm nur befehle, hatten die Idee, ich solle mich im Jahr 2046, also einhundert Jahre nach der Gründung der Stuttgarter Nachrichten, auf einen Hügel über der Stadt setzen und in die Vergangenheit blicken.

Mein Hinweis, 2046 würde ich in der Hölle schmoren, weil Gott weiß, dass ich die Sauna im Bad Berg liebe, oder ich würde auf dem Degerlocher Waldfriedhof die Grashalme von unten zähle, weil ich zu oft bei den Stuttgarter Kickers herumgelungert sei, schreckte die Herren nicht, an ihrem Einfall vom futuristischen Rückwärtsschauen festzuhalten. Dabei hatte ich nicht die geringste Lust, mich als verwirrter Fantasy-Trottel durch die Gegend beamen zu lassen, um irgendwann kopfüber in den Scherben dackelhafter „Zeitfenster“ zu landen.

Zum Glück kam im Jahr 2011 dieser Weltwunderherbst in die Stadt, ein Wetter, das einem am Morgen den Winter und am Mittag den Sommer versprach. Ich setzte mir meinen vanillefarbenen Stetson-Panama auf den Kopf, stieg zum Weißenburgpark mit seinem historischen Teehaus hinauf und schaute in die Tiefe. Leider ahnen die meisten Zukunftsfetischisten, dass sie viel über die Gegenwart und noch mehr über die Vergangenheit wissen müssen, um sich der Zukunft zu nähern. Vermutlich war es nicht im Jahr 2046, als ich vom Weißenburgpark in den Kessel schaute. Allerdings fiel mir auf, dass wohl auch 101 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine Atombombe dieses Himmelsgeschenk vernichten könnte, das Stuttgart-Wunder namens Topografie.

Man kann mit Autobahnen eine Stadt tranchieren, man kann Bahnhöfe samt Gleisen und Menschen beerdigen, man kann Würfelspiele als architektonische Geistesblitze verkaufen. Man kann sich das billigste Rechteck als Quadratur des Kreises zurechtlügen, wenn diese Art von Bauen den Investoren dient. Aber den Kessel, den kann man nicht verbiegen, so viele Dellen er auch abbekommen hat, selbst nach dem Krieg.

Wenn ein altgedienter Zeitungsfritze hinunterschaut vom Hügel in die Stadt und in die Vergangenheit, denkt er zwangsläufig an Blei. Das Blei-Handwerk wurde ja nicht nur erfunden, um mit Kanonen Menschen umzubringen. Als ich 1976 zu den Stuttgarter Nachrichten kam, haben die Verlager gerade Setzmaschinen und Blei im Firmengebäude an der Räpplenstraße abgeschafft und aberwitzig große Computeranlagen im neuen Haus in Möhringen aufbauen lassen. 2046 glaubt keiner mehr, dass man tonnenweise Elektronik anschleppen musste, um nur einen Bruchteil dessen herzustellen, was heute ein Taschentelefon leistet.

Hätte ich schon in den Siebzigern im Weißenburgpark einen Computer aus der Jackentasche ziehen und darauf herumtrommeln können – wäre dann meine Sichtweise heute anderes? Nein, es hing nie von der Technik ab, ob einer begreift, wo er ist und wie er lebt. Und sollte 2046 einer vor dem Teehaus hinunter auf die Stadt schauen, ohne eine Gänsehaut zu bekommen, dann wohl deshalb, weil andere vor ihm das Kesselwunder missachtet und die Landschaft zerstört haben.

Die Idee, einem Menschen Stadtansichten aus der Zukunft abzuverlangen, ist eine Sache, die nur in der Nachpubertät erlaubt ist. Da darf man noch glauben, man könne große Sprünge machen in einer Stadt, die einen dauernd zum Treppensteigen zwingt. Sofern man sich nicht wie ein Politiker sein Weltbild in Sitzungszimmern, Fernsehstudios und Tiefgaragen zusammenpuzzelt und nicht weiß, dass es in dieser Stadt gutes Mineralwasser und einen Fluss namens Neckar.

Wie gesagt, ich saß oben im Weißenburgpark, es war zwölf Uhr mittags oder im Jahr 2046, das ist mir wurscht. Aber ich weiß noch, dass ich mich erinnert habe, wie ich einmal einen Aufsatz darüber schreiben musste, warum ich Stuttgart liebe. Um diese Frage zu klären, habe ich mich in die Zacke gesetzt, in jene Zahnradbahn, die geistig tiefergelegte Politiker in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erstnhaft im Erdreich verbuddeln wollten. Ich bin wieder einmal hinaufgefahren auf die Wielandshöhe, zum Wirtshaus des Kochs, Musikers und Schriftstellers Vincent Klink. Der Koch ist ein Zugezogener wie ich, und trotz aller Ungezogenheit im fremden Nest haben sich die Leute doch immer darauf geeinigt: Wenn man hinabschaut ins Tal, dann spürt man dieses Ziehen im Herzen und im Schritt, das man Liebe nennt. Und dieses Oben-unten-Verhältnis, diese Berg-und-Tal-Beziehung, ist – anders als in der Politik – eine zeitlose Angelegenheit.

Wenn heute Zwotausendsechsundvierzig wäre, dann wäre mir das womöglich scheißegal. Es gibt Dinge, die ändern sich nicht, auch nicht, wenn Spekulanten glauben, sie könnten sich die Welt nach ihrem Gusto zurechtzementieren. Mit der Beton-Politik versetzt man Bahnhöfe, aber (noch) keine Hügel.

Früher war nichts besser, das kann ich mit gutem Gewissen behaupten. Früher hat es nur mehr Leute gegeben, die ihre Augen aufgemacht und gemerkt haben, worauf es ankommt. „Glückliches Stuttgart“, hat Hölderlin geschrieben, „nimm freundlich den Fremdling mir auf!“ Daran halten sich viele Stuttgarter Bürger bis heute. Im Kessel herrscht eine andere Haltung, als mancher Fremdling denkt.



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