Bauers Depeschen


Freitag, 17. Februar 2012, 866. Depesche



SOUNDTRACK DES TAGES



NOTIZ

An diesem Samstag, 18. Februar, findet auf dem Schlossplatz die nächste Kundgebung gegen Stuttgart 21 statt. Motto: "Am Tag danach". Es sprechen u. a. Volker Lösch, Eisenhart von Loeper und unsereins; Hannes Rockenbauch moderiert. Beginn 14.30 Uhr. - Die nächsten Flaneursalon-Veranstaltungen findet man unter TERMINE



Die aktuelle StN-Kolumne:



DER ZOPF

Einer der besten Agentenplätze in der Stadt ist ein Fensterplatz im Café Königsbau. Der Gast am Morgen sitzt hoch und einsam über dem Schlossplatz, gute Sicht zur Königstraße. Die Säulen der Kolonnade schützen ihn vor Heckenschützen, und mit einem Fernrohr kann er die Fahnenstange der Villa Reitzenstein anvisieren. Die Fahne der Macht wehte im Wind der Faschingszeit. Es war der schmotzige Donnerstag, der Tag, an dem man Männern die Schlipse abschneidet, weil sie nichts Besseres zu bieten haben. Was es darüber zu sagen gibt, hat der Satiriker Wiglaf Droste mit Blick auf Guido Westerwelle gesagt: „Alles, was er hatte, war Krawatte.“

Am schmotzigen Donnerstag, als ich im Café Königsbau auf meinem Laptop Fink herumtrommelte, stand in der Zeitung, Herr Wolfgang Egger, der Chef der Augsburger Immobilienfirma Patrizia, trage nie Krawatte. Er bevorzuge Zopf. Herr Eggert, der neulich für zirka 1,4 Milliarden Euro 21 500 Wohnungen von der Landesbank gekauft hat, hat keinen geflochtenen Zopf. Er trägt offen. Das Hinterkopfhaar ist zusammengebunden, vielleicht mit einem Gummiring, wie ihn der Weltmann normalerweise über Dollar-Rollen streift. Das Ritual des Männerzopfbindens habe ich in jungen Jahren oft im Leonhardsvierel bewundert. Damals kamen meist Damen zur Hilfe, und die Herren trugen noch nicht gestreifte Anzüge wie Herr Egger. Ihr Outfit entlehnten sie der beliebten Rex-Gildo-Kollektion. Ihre Hemdkragen waren größer als die Spoiler ihrer Porsche, ihre Uhren noch teurer als das Auto, und ihre Stiefeletten hatten dünne Ledersohlen für das feine Gefühl auf dem Gaspedal.

Gebundenes Haar im Männernacken nennt man auch Schwanz oder Pferdeschwanz. Darauf einen guten Reim wie Wiglaf Droste auf Guido Westerwelle zu finden, wäre extem schwierig und zeitraubend. Einigen wir uns deshalb angesichts der knappen Lebenszeit auf dieses Gedicht: „Sein ganzer Kopf war Zopf.“

Als ich diese Zeilen in Fink hineingetippt hatte, bekam ich Lust, mir ein gutes Messer zu kaufen. Ich legte eine Schreibpause ein, ging die Treppen des Cafés zur Königstraße hinunter und schaute mich an der Ecke im Waffengeschäft Villing Magnus um. Auf Anhieb gefiel mir ein kleines Schweizer Modell. Nicht nur, dass es Klinge, Schere, Nagelfeile und Pinzette auf kleinstem Raum vereinte. Sein Griff war mit bestechenden Camouflage-Farben lackiert. Ein schöneres Taschenmesser hatte ich nie besessen.

Ich bezahlte fünfzehn Euro, tanzte erregt hinaus auf die Königstraße und brüllte dem erstbesten Zopfträger ins Gesicht: „Alter, isch schwör dir – dich mach isch Messer.“ Der Mann schien mich nicht zu verstehen, vermutlich ein blöder Schwabe, er sagte: „Ey, bist du schwul, Alter?“

Ich hatte keinen Bock, die Sache zu überprüfen, und ging zurück ins Café. Am Nebentisch saßen zwei Damen, tranken Prosecco und unterhielten sich über Freiheit. Eine sagte: „Ich habe lange gebraucht, um mein Leben zu ändern. Heute mache ich nicht mehr jeden Tag um sechs Uhr Abendbrot.“ Ich zog mein kleines Dschungelmesser aus dem Etui, legte es neben Fink und bestellte Rühreier mit Speck.

Als ich zu essen begann, ging mir weiter die Sache mit dem Zopf durch den Kopf. Mit Hilfe meines fortschrittlichen Taschencomputers Fink fand ich heraus, dass der historische Männerzopf im kommenden Jahr unter großer Anteilnahme der Bevölkerung seinen 300. Geburtstag feiert. König Wilhelm I. hat ihn 1713 als Staatsperücken-Ersatz für Soldaten eingeführt. Heute hängt er nicht nur an Kommisköpfen, und ich hoffe, Herr Egger gibt einen aus.

Wie auf jeden alten Zopf gibt es auch auf den Männerschwanz ein Gedicht, das beste hat Adelbert von Chamisso geschrieben, die ersten zwei Strophen gehen so: „’s war einer, dem’s zu Herzen ging, / Dass ihm der Zopf so hinten hing, / Er wollt es anders haben. – So denkt er denn: 'Wie fang ich’s an? / Ich dreh mich um, so ist’s getan' – / Der Zopf, der hängt ihm hinten.“

Ich hätte die „Tragische Geschichte“, wie Chamisso sein Gedicht genannt hat, gern laut gesungen. Leider fand ich keine Melodie, weil drei Tische weiter vier Damen keiften und quietschten. Sie klangen, als hätten sie einem Typen gerade etwas abgeschnitten, womöglich den Zopf, und vermutlich hing er ihm hinten. Ich steckte mein Messer weg und ging zum Friseur.



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