Bauers Depeschen


Samstag, 21. Januar 2012, 852. Depesche



MARKT AM VOGELSANG

Unser Flaneursalon am Samstagabend im Markt am Vogelsang, der ehemaligen Bauernmarkthalle im Stuttgarter Westen, war die erste Veranstaltung überhaupt an diesem Ort. Die Verkaufsräume im Erdgeschoss hatte man leergeräumt, am Fuß der Treppe zur Galerie bauten wir eine Bühne auf, das Theaterhaus lieferte uns dankenswerterweise Stühle für die Publikumsreihen. Großartige Stimmung bei den 200 Besuchern, beste Spiellaune bei den Flaneursalon-Musikern Eric Gauthier & Jens-Peter Abele, Dacia Bridges & Gabriel Holz, Toba Borke und Pheel. Der ganze Laden rappte ...

Siehe auch LESERSALON



NÄCHSTER FLANEURSALON ...

... am Dienstag, 28. Februar (20 Uhr), im Schlesinger - mit Stefan Hiss, Dacia Bridges, Toba Borke & Pheel. Karten nur im Lokal. Telefon: 07 11/29 65 15.



SOUNDTRACK DES TAGES



REDE

Bei der Kundgebung gegen S 21 am Samstagnachmittag in der Schillerstraße am Hauptbahnhof habe ich diesen Text vorgetragen:



Guten Tag, meine Damen und Herren,

wie immer ist es in dieser Gegend leicht, auf Stuttgarter Geschichte zu treffen. Diese Demonstration heute ist in der Schillerstraße angemeldet. Schiller steht in dieser Stadt – aus der er bekanntlich flüchten musste – für Vernunft, für Freiheit, für gesellschaftlichen Fortschritt. Und diese Art Fortschritt hat nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was uns die Bahn und ihre Service-Abteilung namens Politik unterjubeln wollen –

und zwar als Rechtfertigung für die Zerstörung von Geschichte und Identität in Stuttgart. - Das Zukunftsgelaber mit dem Ziel, technischen Murks, architektonische Rückständigkeit und kulturelles Banausentum im Fall Stuttgart 21 zu kaschieren, ist unerträglich. Der Fortschritt der Tunnelfraktion ist nicht einmal, wie behauptet wird, technischer Natur. Die Fortschrittsfloskel dient allein dazu, Spekulationsgeschäfte mit den Mitteln einer brachialen Stadtumwälzung den Weg zu bahnen. Mit Bohrmaschinen, Motorsägen, Abrissbirnen.

Der frühere Stuttgarter Bundespräsident Theodor Heuss war ein großer Schiller-Verehrer, auch angesichts der Notwendigkeit, aus der deutschen Geschichte die Lehren der Vernunft zu ziehen. Inzwischen ist in dieser Stadt vom Geist eines Theodor Heuss nicht viel mehr geblieben als der Name für eine Partymeile. An der schwäbischen Klugheit des ehemaligen Bundespräsidenten orientiert sich ja auch nicht unbedingt sein aktueller Nachfolger. Der hält sich eher an die Stuttgarter Leitkultur der BW-Bank zur Ablösung von Krediten aus dem Milieu des Halbseidenen. – In diese Art Schmuddel passt der aktuelle Plan, einen Werbemenschen für CDU-Kampagnen als OB-Kandidaten aufzubieten – das turnt voll und ist insofern konsequent, als die Politik der Parteien ohnehin nur noch aus den Sprechblasen und Worthülsen ihrer gut geölten Marketing-Manager besteht.

Vor genau einem Jahr habe ich ebenfalls vor dem Bahnhof etwas vorgetragen. Dieses Datum erwähne ich, weil im Januar 2011 die große Paul-Bonatz-Ausstellung in Frankfurt zu sehen war. Spätestens da wurde klar, so schrieb die FAZ, „dass die Bauherren von Stuttgart 21 mit diesem Denkmal so ignorant und stumpfsinnig umgehen wie 1928 die fanatischen Funktionalisten, die den Bau als reaktionären Giganten diffamierten“.

Bereits zuvor hatte derselbe Autor – der Architekturkritiker Dieter Bartetzko – ein Plädoyer für den Erhalt des Südflügels geschrieben. Ich zitiere: „Die Zuversicht und die Angst der Moderne, Fortschrittsglaube und die Suche nach Halt in der Geschichte sind – und das ist heute so aktuell wie 1919 – in dem monumentalen Bahnhof Gestalt geworden, insbesondere in seinem Südflügel.“

Besonders gut an diesem Artikel gefällt mir bis heute die Überschrift, sie lautet: „Denn sie wissen nicht, was sie in Stuttgart sehen.“

Heute können wir eindeutig sagen: Doch, die Bahn und ihre politischen Helfershelfer wissen sehr wohl, was sie sehen – und was sie tun.

Oft genug hat man ihnen gesagt, welche historische Substanz und architektonische Einzigartigkeit sie zertrümmern, wenn sie den Südflügel des Bahnhofs abreißen und das Ensemble zum Fragment machen.

Aber: Es ist ihnen scheißegal. Dieser Südflügel steht im Weg, wenn es darum geht, Immobiliengeschäfte voranzutreiben. So verstümmelt man eines der bedeutendsten Bauwerke der frühen Moderne in Europa – und hat auch dafür eine Floskel aus dem Wörterbuch der Unkultur parat: Man nennt das Wachstum. Die emotionale Beziehung der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Bahnhof wird ohnehin mit Arroganz ignoriert. Dieser psychologischen Problematik begegnen die Plattmacher mit ihren üblichen Dummwörtern: Leute, die etwas über ihre Stadt wissen und für sie übrig haben, sind Nostalgiker und Ewiggestrige.

Auch gebildete Menschen tauchen auf und kritisieren die (angebliche) Nazi-Architektur des Bonatz-Baus. Seltsamerweise waren diese Leute nie zu sehen, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Stuttgarter Nazi-Geschichte ging, etwa beim Einsatz um den Erhalt der Gestapo-Zentrale Hotel Silber als Mahnmal – oder gar um die aktuellen Umtriebe von Neo-Nazis in Stuttgart und nächster Umgebung. Die Heuchler fordern nichts anderes, als ein Kapitel deutscher Geschichte mit der Amputation des Südflügels auszulöschen. Auf diese Weise zerstört man die Psychologie eines zentralen urbanen Ortes. So kappt man in Stuttgart die Brücken zur Vergangenheit. So zerstört man schon im Ansatz das Verständnis für Geschichte – und diese Ignoranz setzt sich woanders fort, denken Sie nur an die heruntergekommene Altstadt mit ihrer historischen Architektur.

Lernen könnten die selbsternannten Experten für Nazi-Architektur aus der deutschen Geschichte beispielsweise, dass in diesem Land nicht jede demokratische Mehrheitsentscheidung für eine gute Zukunft gesorgt hat. ---

Meine Damen und Herren, im derzeitigen Klima der Zerstörung regiert seit einem Dreivierteljahr bezeichnenderweise der Ministerpräsident einer Umweltpartei – und ausgerechnet ER sagt kein einziges Wort.

Der Ministerpräsident benimmt sich wie der Oberbürgermeister: Er schweigt. Er schweigt über die Schmerzgrenze hinaus. Herr Kretschmann sitzt den Prozess der Stadtverschandelung als Zuschauer in der Villa Reitzenstein aus – immer gut eingebettet in seine politische Sachzwangsjacke.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich der Ministerpräsident gern als intellektuell gebildeter Landesvater gibt. Allerdings reduzieren sich seine Zitate aus den Kalenderblättern der Philosophie bisher auf die Wertschätzung der Deutschland-Tournee von Papst Benedikt.

Selbst wenn jeder einsehen würde, dass ein Regierungschef die Barbarei am Bahnhof nicht verhindern könnte, so begreift noch lange nicht jeder, warum ein Politiker dermaßen tief auf Tauchstation geht, während er gleichzeitig Bürgernähe und Transparenz propagiert.

Diese Politik läuft nach dem ewig gleichen Motto: Am Anfang war das Wort. Am Ende war es gebrochen. ---

Ich möchte noch ein paar Sätze zum Protest gegen Stuttgart 21 sagen. Nach meinem Gefühl diskutiert man bis heute etwas zu oft und zu hartnäckig die technischen Fakten des sogenannten Verkehrsprojekts diskutiert. Dahinter verbirgt sich der Glaube, man könne mit Fakten zur Promille-Neigung der Bahnsteige, zur Zahl der Gleise oder zum lächerlichen Verspätungsausgleich die Argumente der Bauherren zerpflücken – und den Unsinn der Stuttgart-21-Pläne offenlegen.

Spätestens aber nach der Seifenoper des Deutschen Schlichtungsfernsehens war zu erkennen, dass alle Argumente nur einer Inszenierung mit längst beschlossenem Verlauf und Ausgang dienten. ---

Jedes Mal wenn mir heute das klug gewählte Wort Parkschützer begegnet, denke ich: Im Grunde bräuchten wir als Signal – und um der Situation gerecht zu werden – den Begriff Stadt-Schützer. Was hier passiert, erinnert an Francesco Rosis Filmklassiker über die Vereinnahmung einer Stadt. Sein Titel lautet: „Hände über der Stadt“. Wenn man bedenkt, dass ein Park ein wichtiger, ein unersetzlicher Teil einer städtebaulichen Komposition ist, dann bedeutet das: Wenn Bäume fallen, ist die gesamte Stadt gefährdet. Ihr Charakter, ihre Identität.

Es ist schade, wenn die Gegner von Stuttgart 21 in der Thematik der aktuellen Occupy-Bewegung im Moment keine oder so gut wie keine Erwähnung finden.

Jedenfalls spielt Stuttgart 21 als Symbol einer Entwicklung, als Beispiel des Widerstands gegen die Politik der Profitmaximierung nicht die Rolle, die es verdient hätte. Auch innerhalb des Protests erscheint der Blick auf den Bahnhof beziehungsweise den Tiefbahnhof gelegentlich etwas eng.

Selbstkritik ist nicht unbedingt das beste Mittel eines Demo-Redners, die Leute zu motivieren. Doch was ist schon richtig.

Zuletzt habe ich mich ein wenig mit den Erfahrungen der Occupy-Leute beschäftigt – und denke, dass man dabei einiges lernen kann, nicht nur in der Theorie, sondern auch bei praktischen Dingen auf der Straße.

Wenn man die Stuttgarter Demos der Wochen erlebt hat, gibt es keine Zweifel, dass sie weitergehen. Es ist die anmaßende Propaganda realitätsfremder Herrschaften, der Protest habe nach der Volksabstimmung seine Legitimation bei der breiten Bevölkerung verloren. Nach dieser Logik hätte jede Opposition – nicht nur die FDP – ihre Legitimation bei der breiten Bevölkerung verloren.

Die Mehrheiten der S-21-Gegner bei der Volksabstimmung im breiten Zentrum von Stuttgart muss ich hier nicht mehr vorrechnen. Erwähnen muss ich auch nicht mehr, dass dieses Volksabstimmung eine Art Freibrief ist, etwa für die Kapitulation des Denkmalschutzes. Wichtiger erscheint mit dieser Hinweis: Seit die Grünen den Ministerpräsidenten stellen, ist der Stuttgarter Landtag endgültig eine oppositionsfreie Zone.

Das kann nicht gut sein für eine Demokratie, und der Protest tut deshalb gut daran, über die schiefen Bahnsteige von S 21 hinauszudenken. ---

Für heute verabschiede ich mich mit einem Satz von Theodor Heuss. Er hat ihn den Beamten gewidmet, auch Mentalitäts-Beamten wie Herrn Kretschmann, er gilt aber auch für Berufsdemonstranten. Ich zitiere:

"Die Pflicht zum Widerspruch ist im Gehalt inbegriffen."

Vielen Dank.

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