Bauers Depeschen


Samstag, 31. Dezember 2011, 841. Depesche



ALLEN FLANEURSALON-BESUCHERINNEN UND -BESUCHERN,

auch denen, die mir schmarotzend nur virtuell begegnen,

EIN ERREGENDES NEUES JAHR!

Lasst es krachen, ich war am Morgen im Dachswald,

den Rest erledige ich auf meinem Sofa. Prost!



SOUNDTRACK DES TAGES



NOTIZEN

Die Kolumne über das Ende der Bäckerei Schmälzle in der Stuttgarter Altstadt findet man in der Depesche vom 30. Dezember. - Für unseren Flaneursalon am Samstag, 21. Januar, im Markt am Vogelsang (Bauernmarkthalle West) gibt es keine Karten mehr. - Unsere nächste Lieder- und Geschichtenshow findet am Dienstag, 28. Februar, im Schlesinger statt - mit Stefan Hiss, Dacia Bridges, Toba Borke. Karten gibt es nur in der Kneipe.



Die StN-Kolumne von diesem Samstag:



JETZT GRÖLT MAL ALLE

Das Jahr 2011 ist angezählt, und wie immer feiert man Silvester frei nach Brechts Dichterwort: Erst kommt das Fressen, und dann das Fanal. Wenn die Raketen steigen, wenn viel Geld am Himmel über der Stadt explodiert, blicken wir zurück auf ein großes Jahr: auf das Stuttgarter Jahrhundertjahr. Endlich läuft die unterirdische Geldexplosionsmaschinerie Stuttgart 21 auf Hochtouren.

Beinahe hätte ich zum Neujahrsstart die Geschichte einer anderen großen Stuttgarter Idee vergessen. Fast hätte sie uns 2012 ein weiteres Jahrhundertprojekt beschert. 2012 ist das Jahr der Olympischen Sommerspiele, und wäre S 21 nicht dazwischen gekommen, könnte ich in der Stadt demnächst durchs Olympische Dorf flanieren.

Dummerweise finden die Spiele 2012 in London statt, und womöglich hat die Jugend der Welt im globalen Fortschrittswahn vergessen, wen die Götter des Olymps eigentlich dafür auserkoren hatten. Die Erinnerung an einen der größten Momente Stuttgarter Weltpolitik sind verblasst, seit sich die Wirtschaft und ihre politische Service-Abteilung nur noch der Zukunft hingeben. So obliegt es mir, den 12. April 2003 noch einmal aufleben zu lassen, diesen Tag einer Selbstdarstellung, wie man sie zuvor nie gekannt hatte.

Am 12. April 2003 präsentieren sich Frankfurt am Main, Düsseldorf, Hamburg, Leipzig und Stuttgart im Kampf um die deutsche Olympia-Bewerbung für 2012. Der Wettbewerb findet im Münchner Hilton statt, und in einem visionären Vorgriff auf das Public-Viewing-Zeitalter lassen Stuttgarts Kampagnen-Manager die Show via Leinwand auf dem Schlossplatz übertragen. Zur Freude der reiferen Jugend singt der damals abgehalfterte Popstar Nena, während ein talentierter SWR-Moderator dem Publikum mit virtuosem Entertainment einheizt: „Jetzt grölt mal alle!“

Im Münchner Hilton waren geübte Image-Werber am Werk, Strategen, die man später als Propaganda-Pfeiler für Stuttgart 21 wiedertreffen sollte, etwa den Oberbürgermeister Schuster und den Arbeitgeberpräsidenten Hundt. Der OB ging leicht gehandicapt in sein größtes Rennen. Nach missglückten Leibesübungen in der prä-olympischen Phase war sein linker Arm eingegipst. Dafür glänzte der Arbeitgeberchef unversehrt und verblüffte das Auditorium mit Worten über Stuttgarts weltmännische Herausgehobenheit: Die Schwaben, sagte er, seien „richtige Schaffer“. Der OB wiederum las eine Eigenlobrede vom Blatt, deren Unterhaltungswert, so notierte ich damals, „den Schriftwart des SV Heslach bei der Weihnachtsfeier seines Vereins den Kopf gekostet hätte“.

Als psychologisches Kampfmittel hatte Stuttgarts Olympia-Delegation einen Repräsentationsfilm im Gepäck, der trotz betörend erotischer Schnarchbilder an seiner wilden Dramaturgie scheiterte. In dem Streifen sah man, wie Erwin Teufel, das religiös gesteuerte Idol des späteren Regierungschefs Kretschmann, im leeren Daimlerstadion seine olympische Mission verkündete. Die Macht der Bilder erkannte damals schodn der Unternehmer Hundt, weshalb er später reichlich Kohle eintreiben ließ, um mit Kinospots die Volksabstimmung pro S 21 zu beeinflussen.

Die Fantasie der Olympia-Bewerbung unter der Regie des Oberbürgermeisters hatte bereits bei dem Versuch Aufsehen erregt, die Bevölkerung aus Stadt und Land mit Transparenz für die Spiele zu gewinnen. Auf den Schlossplatz stellte man, mit der Parole „Faszination Olympia“ dekoriert, einen Sperrholz-Würfel – das architektonische Vorbild des Kunstmuseums –, während in ein paar Läden Papierfähnchen mit dem Hinweis auf die Olympiastadt Stuttgart vergilbten.

Selbstverständlich hielt man in üblicher Weitsicht auch die internationale Konkurrenz auf Distanz. Als der OB das Kommando „Paris, Moskau, New York – wir kommen!“ ausgab, dachte ich, er zettele den Dritten Weltkrieg an. Zum Glück aber einigte sich das IOK rechtzeitig auf London als Olympiastadt.

Es ist nur eine Fußnote der Geschichte, dass Stuttgart am 12. April 2003 beim Olympia-Contest unglücklich den letzten Platz belegte und sich mit seiner mehrere Millionen Euro teuren Größenwahn-Kampagne bis auf die Knochen blamierte. Das Olympia-Büro verbreitete rasch eine Verschwörungstheorie und warf dem NOK Mafiamethoden vor. All diese Erfahrungen sollten bald darauf den Betreibern des Jahrhundert-Bluffs S 21 zugute kommen.

Das Finale der Olympia-Bewerbung. 2003 fand übrigens anderthalb Jahre vor der OB-Wahl statt. Auch 2012 ist OB-Wahl. Der Triumphmarsch durchs Olympische Dorf muss, wie gesagt, 2012 leider ausfallen. Ersatzweise dürfen wir zuschauen, wie gut trainierte Athleten unserer deutschen Polizeisportvereine bei der Räumung des Camps im Schlossgarten Tapferkeitsmedaillen holen. Und so realisieren unsere Jahrhundert-Politiker doch noch ihre olympische Idee. Über gefällten Bäumen und zerstörten Bahnhofsflügeln wehen die Fahnen der Hammerwerfer von der Deutschen Bahn: „Höher, schneller, weiter“. In diesem Sinne: Prost Neujahr!



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