Bauers Depeschen


Freitag, 25. März 2011, 696. Depesche



HOTEL SILBER, STUTTGART

Bei der Kundgebung am Donnerstag dieser Woche für den Erhalt des Hotels Silber, der ehemaligen Stuttgarter Gestapo-Zentrale in der Dorotheenstraße, hat der Historiker Dr. Werner Jung eine bemerkenswerte Rede gehalten. Freundlicherweise erlaubte er mir, seinen Text auf dieser Homepage zu veröffentlichen. - Werner Jung, 1954 in Köln geboren, studierte Geschichte, Germanistik und Psychologie in Köln. Heute ist er Direktor des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln.



Meine Damen und Herren,

vor knapp zwei Jahren, am 19. Juni 2009, stand ich zum ersten Mal vor diesem Gebäude. Kopfschüttelnd und erstaunt, darf ich Ihnen sagen. Herr Prof. Ostertag hatte mich zu einem Vortrag ins Literaturhaus eingeladen und zeigte mir zuvor das „Hotel Silber“. Ich berichtete im Literaturhaus über die Erfahrungen des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, dessen Direktor ich bin. Diese größte lokale Gedenkstätte in der Bundesrepublik hat ihren Sitz in der ehemaligen Gestapozentrale von Köln. 1979 wurde die Gedenkstätte eingeweiht und 1987 der Grund gelegt für das NS-Dokumentationszentrum in der heutigen Form.

Auch wenn Stuttgart erinnerungspolitisch um Jahrzehnte hinterher hinkt, drängen sich die Parallelen zum „Hotel Silber“ und unserem Haus geradezu auf. Es fängt schon damit an, dass auch unsere Einrichtung mit einem Eigennamen bezeichnet wird: nach den Initialen des Hausgründers nennt es sich EL-DE-Haus. Dieses Haus hat den Krieg in einem Meer von Verwüstung überstanden. Gewissermaßen eine Ironie der Geschichte. Es wurde aber nach dem Krieg durch Anbauten und Umbauten stark verändert – eigentlich stärker als hier in Stuttgart – und war und ist teilweise noch heute von Behörden genutzt (in diesem Fall von der Stadtverwaltung) – wie in Stuttgart. Als ich vor knapp zwei Jahren vor diesem Haus stand, war ich doch erstaunt, wie gut erhalten das Haus war. Die alte Struktur des „Hotel Silber“ ist klar erkennbar. Es handelt sich nicht um einen Neubau. Wie in den fünfziger Jahren üblich, hat man die damals ungeliebten Ornamente aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs an der Hausfassade abgeschlagen.

Doch eines ist vollkommen klar: Es ist das „Hotel Silber“ – es ist die ehemalige Gestapo-Leitstelle in Stuttgart. Keiner, der diese Zeit erlebt hat, erst recht keiner, der dort inhaftiert gewesen sein mag, wird dies bezweifeln. Auch keiner, der historische Fotos betrachtet (etwa aus der unmittelbaren Nachkriegszeit) – es sei denn, es handelt sich um einen verblendeten Apologeten des Abrisses.

Mit dem Argument, das „Hotel Silber“ sei angeblich nicht mehr „Original“ oder authentisch, wird der beabsichtige Abriss immer wieder begründet. Dass dieses Haus nicht unter Denkmalschutz steht (wie seit Anfang der 1980er Jahre das Kölner EL-DE-Haus) ist jedoch nicht ein Problem des Hauses, sondern der zuständigen Behörde, des Landesdenkmalamtes: Hier hat man keinen Sinn für diese Architektur des alten Hauses, das im Neo-Renaissance-Stil errichtet wurde und vor allem haben diese sogenannten Denkmalpfleger einen seelenlosen Blick auf die Geschichte und der Verantwortung davor. Mit dem Argument, infolge von Umbauten und Anbauten könne ein Gebäude nicht Denkmal sein, könnten Sie quer durch die ganze Republik an einer Vielzahl von bekannten Denkmälern die Abrissbirne anlegen. Mit dem gleichen Recht – wie das „Hotel Silber“ abgerissen werden soll – könnten Sie das Alte Schloss in Stuttgart abreißen. Auch die amtlichen Gedenkstättenbeauftragten geben sich leider als Bedenkenträger: Sie sehen in einem Dokumentationszentrum hier im ehemaligen „Hotel Silber“ einen Konkurrenten zu den kleineren dezentralen Gedenkstätten im Land. Dies ist kleinkariert und provinziell und verletzt zentrale Prinzipien einer Gedenkkultur.

Was heißt auch schon authentisch? Ist ja schließlich nicht zu erwarten, dass die originalen Büros der Gestapo erhalten geblieben sind. Es ist – wie in allen anderen vorhandenen Gedenkstätten – ein Haus am authentischen Ort, zu dessen Geschichte auch der Umgang mit dem Haus nach Kriegsende gehört. Der Wandel, die Verformungen der Zeit gehören zu seiner Geschichte. Hier besteht für das „Hotel Silber“ sogar eine große Chance: Bevor es Gestapoleitstelle wurde, war es von 1928 bis 1937 Polizeipräsidium und danach von 1949 bis 1983 Polizeistelle und wird heute noch vom Innenministerium genutzt. Es lassen sich also besonders gut Kontinuitäten und Unterschiede herausarbeiten und so auch demokratisches Bewusstsein schärfen.

Für die geschichtliche Vermittlung sind authentische Orte wesentlich. Das Haus steckt voller Erinnerungen. Die Steine sprechen. Das gesamte Haus, nicht allein der Keller mit den ehemaligen Zellen ist der Erinnerungsort. Nicht ein möglichst authentisches ehemalige „Hotel Silber“, sondern das Haus, so wie es jetzt hier steht, ist der Anker der Erinnerung. Es ist ein authentisches Sachzeugnis – in einem doppelten, ja einem dreifachen Sinn: Es konkretisiert die Geschichte vor 1945 und den Umgang nach 1945 – und auch die Zeit vor 1933.

Heute lässt sich noch sagen: Das ist die ehemalige Gestapozentrale. Nach dem Abriss: Hier stand die ehemalige Gestapozentrale. Ein grundlegender Unterschied.

Die Gedenkorte bieten das, was Erinnerung bedarf: die Konkretisierung, die im Kleinen, in der unmittelbaren Lebenswelt erfolgt. Erinnerungsarbeit, die „vor Ort“ – in einer Stadt oder Gemeinde geschieht – hat einen unschätzbaren Wert für die Vermittlung. Das Historische wird nachvollziehbar als Geschehen in der Nachbarschaft; nachvollziehbar, weil es vor Ort und unmittelbar der alltäglichen Umgebung entstammt. [Auschwitz – der Name steht stellvertretend für die Gräuel des Massenmords während der NS-Zeit – entzieht sich zu einem gewissen Teil dem Verstehen und der Kommunikation angesichts des Monströsen und Gigantischen, angesichts der technisch-industriellen Planung und Umsetzung des Massenmords. Die lokalen Gedenkstätten leisten hierbei eine doppelte Konkretisierung: durch die Einbindung „vor Ort“ in die vertraute Lebenswelt und durch die für sie zentrale biographische Methode, die anstelle eines anonymen „Massenmordes“ den Einzelnen, die Ermordung von Menschen, die in der einem heute vertrauten Umgebung gelebt haben, erst wieder in den Mittelpunkt rückt. ] Dieses Haus ist wie alle Gedenkorte ein ausgezeichnetes Medium für die Vermittlung; geeignet, historische Vorstellungskraft und Empathie entstehen zu lassen.

Nun gibt es ja bekannterweise die Position: abreißen oder ein Stück der Fassade erhalten, und dann ein NS-Dokumentationszentrum einrichten. Als schäbig habe ich diese Position schon bei meinen beiden anderen Vorträgen in Stuttgart bezeichnet – und dabei bleibt es. Nicht weniger schäbig – und scheinheilig noch dazu – ist es, wenn eine bekannte politische Gruppierung im Rat noch bis vor kurzem – den Wert dezentraler Erinnerungsorte betont, den Erhalt des Gebäudes nicht für notwendig hält und dennoch einen attraktiven würdigen Lernort schaffen möchte, da – so jetzt Zitat – „der Ort Dorotheenstraße 10 für immer davon Zeugnis ablegen muss, welche Verbrechen von im ausgegangen sind“. Also Abriss, um würdig an den Ort Dorotheenstraße 10, das „Hotel Silber“, zu erinnern? Absurder geht es nicht mehr – und scheinheiliger auch nicht. Ein Stück aus dem politischen Tollhaus.

Stuttgart und das Land müssen erkennen: Es gibt keine Alternative zum Erhalt des Hotels Silber und der Einrichtung eines NS-Dokumentationszentrum in seinen Räumen. Eine Quadratur des Kreises ist nicht möglich. Stellen wir uns doch mal Folgendes vor: Das Haus würde abgerissen und in einem Neubau ein NS-Dokumentationszentrum eingerichtet. Dann sitzt man in sicherlich wohlklimatisierten und schicken Räumen mit den feinsten und besten Medien – daran wird ganz sicherlich nicht gespart werden – und beginnt den Vortrag damit: „Hier stand einmal (bis vor kurzem) die ehemalige Gestapoleitstelle …“ So eine Einrichtung ist ihr Geld nicht wert. Wer abreißen möchte, der sollte auf Alibiübungen verzichten. Dieses Geld ist herausgeschmissenes Geld und sollte für sinnvollere Dinge ausgegeben werden. Dies ist das, was ich als schäbig bezeichnet habe. Nur noch peinlich wird es, wenn ich mir vorstellen, dass in einem sogenannten Lernort, den man nach dem Abriss errichten möchte, in einem Seminar über „Arisierung in Stuttgart“ über den Arisierungsgewinnler Alfred Breuninger gesprochen werden sollte – und dass die Kaufhauskette, die noch heute seinen Namen trägt, verantwortlich für den Abriss des authentischen Orts ist. Dies ist eine doppelte Verhöhnung der Opfer.

Will wirklich jemand in Stuttgart für diese skandalöse Situation verantwortlich sein? Zum Erhalt des „Hotel Silber“ und seine Nutzung als Erinnerungsort gibt es keine Alternative. Wer glaubt, nach Abriss eine solche schaffen zu können, wird sich täuschen: Jede andere Lösung wird das Kainsmal in sich bergen, dass mit ihr der Abriss begründet wurde. Ohne den authentischen Ort ist ein Gedenkort eine leere Hülle und ohne den authentischen Ort ein Erinnerungsort von einer beliebigen Qualität, da überall zu errichten und damit seiner eigentlichen Wirkung beraubt ist . Deswegen gibt es keine Alternative zum Erhalt des „Hotel Silber“.

Es hat sich ja erfreulicherweise in den letzten Monaten einiges getan: Erfreulich ist es, dass sich die SPD-Fraktion spät, aber immerhin klar für den Erhalt ausgesprochen hat – übrigens auch nach einem Besuch bei uns in Köln. Erfreulich ist auch, dass der Initiative von Herrn Prof. Ostertag und Prof. Micha Brumlik so viele Prominente gefolgt sind und die Grünen auffordern, endlich „Farbe zu bekennen“ – wie es heißt. Folgende Prognose ist kein Wagnis mehr: Dieses Haus wird nicht mehr so nebenher bei einem Neubauprojekt abgerissen werden können. Diese Einsicht hat sich nur noch nicht bei allen herumgesprochen.

Die Initiative Gedenkort Hotel Silber ist dafür gut gerüstet: Das von ihr entwickelte Konzept hat sehr überzeugend gezeigt, wie sinnvoll das Haus genutzt werden kann. Das sage ich nicht nur deshalb, weil mir einige der Elemente des Konzepts aus dem Kölner Beispiel durchaus bekannt vorkommen. Ein einzurichtendes NS-Dokumentationszentrum wird Erfolg haben, wenn es breit aufgestellt ist. Ich spreche immer von der Dreieinheit von Gedenkort – Lernort und Forschungsort.

Ein Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus

Ein Lernort mit Dauerausstellung, Sonderausstellungen, Veranstaltungen, pädagogischen Angeboten einschließlich der Auseinandersetzung gegen den heutigen Rechtsextremismus

Ein Forschungsort mit Bibliothek, Datenbanken und Forschungsprojekten, die mit Kooperationspartnern wie Universität und Archiven durchgeführt werden könnten.

Das Herz des neuen NS-Dokumentationszentrum wird das Haus selbst sein.

Meine Damen und Herren,

Sie haben eine große Verantwortung – jeder und jede von Ihnen hier auf dem Platz, alle Bürgerinnen und Bürger des Landes und darüber hinaus:

Sollte dieses Haus abgerissen werden, wird dieser authentische Ort für immer dem Erdboden gleich gemacht sein. Verhindern Sie diese Kulturschande – das sind Sie den Opfern des Nationalsozialismus schuldig und das sind Sie den nachfolgenden Generationen schuldig.

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