Bauers Depeschen


Montag, 31. Januar 2011, 665. Depesche



TEXT MEINER REDE bei der Kundgebung gegen S 21 an diesem Montag:



Guten Abend vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof,

meine Damen und Herren, als ich das letzte Mal hier was gesagt habe, befanden wir uns gerade in der Stuttgarter Oktober-Revolte. Inzwischen ist es Januar, kalt, und die Stadt riecht nach Abriss und Landtagswahlkampf.

Wahlkampf ist, wenn die Verkehrsministerin Gönner durch ihren Heimatkreis Sigmaringen zieht und ihren Landsleuten weismacht:

Wenn Stuttgart 21 gebaut wird, sind alle Sigmaringer in 45 Minuten in Stuttgart - wohlgemerkt mit der Eisenbahn, nicht auf einer Kanonenkugel im Ministerpräsidenten-Format.

Dazu muss man nichts sagen, das ist wie gesagt Wahlkampf – und jedes Land hat die Sarah Palin, die es verdient.

Wahlkampf wäre auch, ab sofort solidarische die FDP zu unterstützen, weil Frau Homburger ganz ähnlich klingt wie die Tröten hier auf dem Arnulf-Klett-Platz.

Mir geht es nicht um Wahlkampf. Die Eisenbahn wurde nicht nur erfunden, um den Bürgern Land wegzunehmen und darauf Luxusapartments hinzustellen wie hier auf dem Bahnhofsgelände. Man kann mit der Eisenbahn, wenn sie gerade mal fährt, auch eine nützliche Reise machen, zum Beispiel nach Frankfurt am Main, um dort die Paul-Bonatz-Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum zu besuchen. Das habe ich gerade gemacht, und weil ich mir nicht anmaße, meine Sicht der Dinge als Maßstab zu nehmen, zitiere ich an dieser Stelle Dieter Bartetzko von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er schreibt über Paul Bonatz und den Stuttgarter Hauptbahnhof:

„Zu erkennen, dass die Bauherren von Stuttgart 21 mit diesem einzigartigen Denkmal so ignorant und stumpfsinnig umgehen wie 1928 die fanatischen Funktionalisten, die den Bau als reaktionären Giganten diffamierten, bleibt dem Besucher überlassen – denn nur mit extrem großen Scheuklappen könnte man im Deutschen Architekturmuseum die Verstümmelung des Stuttgarter Hautbahnhofs als Lappalie abtun.“

Die extrem große Scheuklappe ist heute das Symbol der Stuttgarter Stadtplanung; es passt gut zum Ross im Stadtwappen.

Was mir in den vergangenen Wochen aufgefallen ist: Sobald man Begriffe wie Historie, Denkmalpflege oder Kulturgeschichte auch nur ausspricht oder hinschreibt, kommen die S-21-Befürworter ums Eck und verbreiten die Phrasen, man romantisiere, verkläre, trage die rosarote Brille.

Das ist ihre Rechtfertigung für ihre totale Geschichtslosigkeit.

Seltsamerweise erinnern sich die gleichen Leute immer dann an Geschichte, wenn sie sich und uns den Bonatz-Bau als Nazi-Monument zurechtlügen. Nazi geht immer, wenn es um die Diffamierung von Gegnern geht, das kennen diese Leute aus dem Fernsehen. Selbstverständlich werden sie den Unsinn vom faschistisch geprägten Baumeister auch wieder verbreiten, wenn sie den Südflügel zertrümmern, dieses Dokument einer Architekturgeschichte, die zurückreicht bis zu den Ägyptern. Sie erkennen nicht, was da vor ihnen steht, sondern beurteilen dieses Denkmal mit seiner einzigartigen Dynamik nach ihrem Privatgeschmack. Ein Geschmack, der schlecht ausgebildet ist, sich an den Erkenntnissen von Tourismus- und Spesenreisen in sogenannte moderne Großstädte irgendwo in der weiten Welt orientiert.

Diese Leute haben nicht das geringste Gefühl und auch nicht den Sachverstand dafür, wie die Stadt Stuttgart ihre Identität, ihren Charakter und ihr Gesicht verliert – wie die Stadt immer mehr zu einem austauschbaren Sammelsurium von Büro- und Wohneinheiten in der Innenstadt verkommt. Die Politiker dieser Stadt leiden an ihrem Betonkomplex.

Die Methode Stuttgart 21 strahlt längst aus. Bald werden wir erkennen, was an der Paulinenbrücke passiert, in diesem inzwischen zum Geisterviertel mutierten Quartier. Man nennt es jetzt Quartier S, und dieser Name ist - wie auch die Bezeichnungen Mailänder Platz, Pariser Platz, Da Vinci oder ähnliche Großkotzigkeiten - ein Beispiel dafür, wie man einem Ort die Identität raubt und die Menschen aus der Stadt hinausbaut. Man wird die eine oder andere alte Fassade stehen lassen, so wie hier am Bahnhof, und das ist bezeichnend.

Meine Damen und Herren, Sie kennen alle den Schriftzug mit dem Hegel-Zitat hier an der Frontseite des Hauptbahnhofs, eine Arbeit und ein Geschenk des amerikanischen Concept-Künstlers Joseph Kosuth.

Joseph Kosuth hat im Zusammenhang mit Stuttgart 21 Folgendes gesagt:

"Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so lässt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland."

Der Künstler Kosuth sagt uns: Es geht gewissen Stadtplanern, Politikern nicht darum, Altes und Neues zu verbinden, wie es große Architekten andernorts vormachen. Es geht ihnen nicht darum, Entwicklungen zu erkennen und daraus zu lernen. Deshalb reagieren sie so allergisch, wenn sie das Wort Geschichte hören und ihren dummen Spott über ihren eigenen Opa ablassen, sobald man sie an die Errungenschaften der Vergangenheit erinnert. Diese Leute - man findet sie in den Wahlkampf-Quartieren der Parteien - sind früh vergreist und halten ihre Verbohrtheit für Fortschrittsdenken. Albert Einstein, den ich nicht zitiere, weil man ihn auf Kalenderblättern findet, sondern weil er im unglückseligen Ulm geboren ist (zum Glück, bevor dort ein gewisser Herr Gönner am rechten Ufer der Donau sein Unwesen trieb), Albert Einstein hat gesagt: „Fortschritt ist der Austausch von Wissen.“ Bei uns bedeutet Fortschritt Ignoranz von Geschichte und Wissen. Den Austausch von Wissen haben Politiker durch die Floskel Kommunikation ersetzt, ein anderes Wort für billige Propaganda.

Euro-Disneyland, das ist die Zukunft, meine Damen und Herren, darauf laufen Projekte wie S 21 hinaus. Euro-Disneyland bedeutet Dagobertismus, auch Casino-Kapitalismus genannt. Euro-Disneyland ist das, was sie meinten, als sie in ihrem Größenwahn vom neuen Herz Europas faselten. So wird Stuttgart ein Allerweltsgebilde aus Shopping Malls, Apartment- und Bürokomplexen.

Da die Beton-Planer ja die Zukunft, den Fortschritt und vor allem, wie sie glauben, das Marketing erfunden und gepachtet haben, fragt sich der halbwegs wache Marketingmensch: Was wollen sie eigentlich mit ihrer Konfektionsware? Sollen Euro-Disneyland-Buden das schaffen, was sie so gern als Marke deklarieren? Sie produzieren keine urbane Marke, keine Alleinstellungsmerkmale – um in ihrem läppischen Sprachgebrauch zu bleiben – sie fabrizieren Wortmüll und Logos, über die jeder Grafiker lacht, der noch einen rechten Winkel in seinem Computer von einem Eierfleck auf seiner Hose unterscheiden kann.

Meine Damen und Herren, seltsamerweise reagieren die Menschen blitzschnell auf Dinge wie den Dioxin-Skandal. In meinem Bio-Supermarkt ums Eck gab es prompt keine Eier mehr. Warum aber reagieren viele nicht, wenn man ihr Stuttgart zwar nicht mit Dioxin, so doch mit einer menschenfeindlichen Stadtplanung vergiftet. Da müsste doch der Satz, wonach man einen Menschen mit einer Wohnung wie mit einer Axt erschlagen kann, in die Zukunft führen:

Mit einer gewissen Art Städtebau, mit jenem Fassadismus, den Joseph Kosuth beschreibt, wird man viele Menschen nicht erschlagen. Aber man wird sie aus ihrer Stadt vertreiben. Denn die Stadtentwicklung schafft die Voraussetzungen dafür, wer sich was in Zukunft noch leisten und wo er wohnen und leben kann.

Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen: Stuttgart, diese einzigartige, liebenswerte Stadt im Kessel unter den Hügeln - oder das Quartier XY, diesen betonierten Euro- und Globalpudding.

Meine Damen und Herren, ich bin am Ende meines Vortrags, gehen Sie bitte nachher pünktlich nach Hause. Sonst wird der Veranstaltungschef hier wieder zu 1500 Euro Strafe verknackt, weil er selber 20 Minuten zu früh gegangen ist. Allerdings, wenn ich das noch sagen darf, erscheinen mir diese 1500 Möpse für zwanzig Minuten gesparte Zeit ein eher günstiger Tarif - wenn man bedenkt, was wir zahlen und erdulden sollen, um 20 Minuten früher in Herrn Gönners Ulm zu kommen. Wir bleiben hier – in unserer Stadt!

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