Bauers Depeschen


Mittwoch, 08. Dezember 2010, 635. Depesche



Die Stuttgarter-Nachrichten-Kolumne von heute:



ACHTER DEZEMBER

In Stuttgart hatte es wohl heftig geschneit, als David Chapman in New York John Lennon erschoss. So genau kann ich mich nicht erinnern. Wer schon kann sich an 1980 erinnern. Es war nichts los in der Stadt. Die Disco Perkin's Park hatte eröffnet.

Am Morgen des 9. Dezember klingelte mein orangefarbenes Telefon. Das Telefon hatte eine lange Schnur, damit es auch die beiden anderen Typen meiner WG in ihren Zimmern benutzen konnten. An diesem Morgen stand das Telefon neben meiner Matratze. Ein Bettgestell hatte ich nicht. Man konnte nie wissen, ob es morgen nicht besser wäre, die Matratze zu schnappen und die Wohnung zu wechseln.

Am Telefon war ein Bekannter, den ich nicht leiden konnte. Einer dieser Spießer, die all die Jahre nur die Beatles gehört hatten, nie die Rolling Stones, nie King Crimson, die Ramones. Er war einer, der Jimmy statt Jimi Hendrix schrieb, wenn er seinen Senf zu allem geben musste. Der Typ sagte am Telefon, man habe John Lennon erschossen und er eine Menge dazu zu sagen. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, ich sei schlagartig hellwach geworden. 1980 war man morgens selten wach und schlagartig nur, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür stand, weil die Herren Mitbewohner eine Rechnung nicht bezahlt hatten. Oder wenn die Polizei kam und sagte, der Vermieter habe einen Terroristen gesehen. Der Vermieter war nachtragend, er vermisste Adolf Hitler.

Manchmal schaute ich morgens aufgeregt vor die Tür, ob mein alter orangefarbener BMW 2002 noch auf dem Parkplatz stand. Manchmal klaute mir einer der Herren Mitbewohner den Schlüssel aus der Hosentasche und fuhr mit meinem orangefarbenen BMW Damen spazieren.

Die Sache mit John Lennon war ein Hammer. Zwar waren bis dahin schon einige Rockstars jung gestorben. In der Regel aber bei einem Motorrad- oder Autounfall, bei einem Flugzeug- oder Drogenabsturz. Man hatte hin und wieder auch läuten hören, ein Rockstar habe jemanden umgebracht, etwa Sid Vicious seine Freundin Nancy Spungen. Dass man aber einen Rockstar vor seiner Haustür erschoss, war neu und deprimierend. Gerade erst waren die siebziger Jahre mit ihren vielen Kriegs- und Terrorismus-Toten vorbei.

Mein erster Gedanke nach der Nachricht vom Tod John Lennons war, moralisch gesehen, eine Katastrophe. Warum, dachte ich, hat es ausgerechnet >John Lennon erwischt? Und nicht einen der anderen? Lennon war der Gute, nicht irgendein "Ex-Beatle", wie ihn die Deppen nannten. Er war der Beatles-Extra-Mann, die Super-Solo-Sonderausgabe der sechziger und siebziger Jahre. Er war sogar pro Frauen. Der Pop-Schriftsteller Nick Cohn hatte ihn den "instinktiven Poeten des Proletariats" genannt, und 1980 gab es genügend Provinzler wie mich, die Gänsehaut bekamen, wenn in der Kneipe John Lennons Song "Power To The People" lief.

Es gab 1980 in Stuttgart kaum Kneipen, in denen man sich über Lennons Zeile "Alle Macht dem Volk" unterhalten konnte; deshalb ist aus seiner Idee bis heute nichts geworden. Es existierten keine Live-Clubs. Zwar hatten Jimi Hendrix, die Stones und die anderen bereits in der Stadt gespielt. Aber die Biotope fehlten, die Nasszellen der Rock'n'Roller.

1980 war weit weg von den Aufbruchszeiten, von den Pop-Experimenten, die ich nicht mitbekommen hatte, weil ich zu jung war. Auch der Punk war 1980 schon ausverkauft. Die flirrige, von Größenwahn geprägte Börsen- und Kunstmarkt-Epoche brach an, und dann, am 8. Dezember 1980, fiel John Lennon. Als wäre seine Zeit vorbei gewesen. Biologisch, intellektuell.

Merkwürdig. Ich dachte, John Lennon sei unsterblich. Er war nicht nur ein Rock'n'Roll-Genie mit großem Selbstzerstörungstalent. Bei seinem globalen Paarlauf mit Yoko Ono hatte er auch alles getan, um sich als kindischer Lebenskonzeptkünstler zu blamieren. Und womöglich war das politisierte Pop-Art-Unternehmen John Lennon gar nicht so läppisch, wie man denkt. US-Präsident Nixon hatte ihn immerhin zum Staatsfeind ernannt. Das schafft auch ein gut verdienender Popstar nicht alle Tage. Wenn ich ehrlich bin (und ehrlich ist ein verlogenes Wort), hatte ich 1980 nichts verstanden von den Dingen, die Jimi Hendrix, John Lennon usw. längst erledigt hatten. Ich war sehr aufgeregt, als mir einmal in den Achtzigern in der Mausefalle, einem Club auf Zeit in der Tübinger Straße, John Lennons Freund, der legendäre Bassist und Grafiker Klaus Voormann aus Hamburg, begegnete. Er wusste viel.

Immer noch bin ich dabei, mir ein Bild zu machen von allem, was ich falsch eingeschätzt und nicht erkannt hatte. Anders wäre es nicht möglich, die Dinge zu begreifen, die heute laufen.

Wenn man John Lennons Beatles-Song "Strawberry Fields" hörte, war etwas Seltsames zu spüren. Nicht umsonst hieß bald auch eine LSD-Version Strawberry Fields. Entsprechend seltsam war es, später in den Achtzigern vor der kleinen Gedenkstätte namens Strawberry Fields zu stehen, drum herum das viel zu große New York.

Erst Jahre später habe ich wieder angefangen, Platten zu kaufen, Compact und Vinyl. Neulich waren zwei Scheiben von John Lennon/Yoko Ono darunter, ich hatte sie nur teilweise oder überhaupt nicht gekannt. Und im Archiv fand ich nach dreißig Jahren den Artikel, den ich am 9. Dezember 1980 hatte tippen müssen, gleich nach dem Katergespräch am orangefarbenen Telefon. Der Schlusssatz lautet: "Der Rock'n'Roll hat einen guten Mann verloren." Weiß der Teufel, ob es stimmt. Strawberry Fields forever.

SOUNDTRACK DES TAGES



FLANEURSALON-TERMIN

Nicht vergessen: Maulwurf-Matinee am Sonntag, 19. Dezember, mit den Musikanten Zam Helga, Dacia Bridges und dem Vorleser. 11 Uhr. Reservierungen: 07 11 / 6 73 24 06.



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