Bauers Depeschen


Dienstag, 27. Juli 2010, 549. Depesche



Eine kleine Geschichte, vor neun Jahren getippt.



MAX'S KANSAS CITY



Ein Sonntagnachmittag im September 2001, die feuchtfrische Luft des Frühherbsts, deprimierendes Klima. Es riecht nach Niederschlägen. Das Fernsehen meldet, in Hamburg sei der Law & Order-Typ Schill mit Pauken und Trompeten in den Senat eingezogen. Hamburg, wird Richter Gnadenlos später sagen, sei bald eine so sichere Stadt wie München, Stuttgart und New York. Er nennt diese Städte tatsächlich in einem Atemzug, exakt zu jener Stunde, als New Yorks Bürgermeister, der Mafioso-Sohn Rudi Giuliani, im Yankee-Stadion in der Bronx seine Trauerrede für die Opfer des 11. September hält.

Düstere Tage sind Museumstage. Ich gehe ins Kunstgebäude am Schlossplatz; der Kunstverein zeigt „Heinrich von Kleist by Frank Stella“.

Frank Stella lebt in New York. Neulich kam er zur Vernissage nach Stuttgart. Leider habe ich nicht mitbekommen, ob ihm immer noch seine beiden Schneidezähne fehlen, wie 1988, als er die Stuttgarter Staatsgalerie anlässlich einer spektakulären Ausstellung mit der Gegenüberstellung seiner frühen "Black Series"-Werke und der schrillen Gegenwartsskulpturen besuchte. Stella hat seine Zahnlücke immer wie ein Markenzeichen vorgeführt und erzählt, er habe die Zähne bei einem Dialog mit Intellektuellen in der Bar Max's Kansas City verloren.

Um Max's Kansas City einmal von innen zu sehen, reiste ich Anfang der Achtziger nach New York. Jahrelang hatte ich über den Club in Manhattan gute Geschichten gehört, von Kunst- und Rockstars. Der Stuttgarter Galerist Hans-Jürgen Müller* hat in den siebziger Jahren in seinem heute noch erhältlichen Buch „Kunst kommt nicht von Können“ über den Laden berichtet.

1965 besucht Müller mit dem Stuttgarter Maler Karl Georg Pfahler erstmals New York; beide sind so etwas wie die Vorhut einer aufkommenden Stuttgarter Avantgardeszene. „Wir mussten uns erst an die neue Größenordnung gewöhnen“, notiert Müller über den Big Apple. „In dieser Stadt kann man tot umfallen, ohne dass der Rhythmus der Straße für den Bruchteil einer Sekunde unterbrochen würde.“

Der Galerist Leo Castelli, einer der Großen der Branche, arrangiert für Müller ein Treffen mit Frank Stella. Nach den Sitten in der Stadt fanden solche Meetings in Max's Kansas City statt. Neben Stella sitzen an diesem Abend Robert Rauschenberg und Jasper Johns am Tisch. Maler, die bald Geschichte machen sollten. Anderntags steht ein Besuch in Stellas Atelier auf dem Programm. Müller erinnert sich: „Frank Stella wirkte auf mich wie ein arbeitsscheuer Architekt. Die Brille steigert die Intelligenz in seinem Gesicht gleichermaßen, wie sie damals durch zwei herausgeschlagene Vorderzähne wieder reduziert wurde. Sein Amerikanisch wickelte sich um die Zigarre, mit der er die Zahnlücke ausstopfte, und was dann noch durchkam, war für mich nicht mehr zu verstehen.“

Müller kauft auf der Stelle ein großes Stella-Bild. Es kostet 1500 Dollar. Castelli gewährt 30 Prozent Rabatt, weil auf diesem Weg erstmals eine Arbeit seines Künstlers nach Deutschland gelangen sollte.

Fast 20 Jahre später, Stella genoss Weltruhm, landete ich mit der Adresse von Max's Kansas City in der Tasche in New York. Gleich nach der Ankunft fuhr ich mit dem Taxi an den Ort der Bar.

Okay, was soll ich noch erzählen. Max's Kansas City war spurlos verschwunden. Frank Stella, Patti Smith, Andy Warhol, Lou Reed, alle längst weg, die Max’s-Kansas-City-Ära vorbei.

Die Enttäuschung war groß. Der Besuch anderer, weniger guter Bars in den folgenden Tagen schlug mir auf den Magen, ich musste einige Tage im New Yorker Lenox Hill Hospital verbringen.

Wer zu spät kommt, den bestraft die Leber.



*Hans-Jügen Müller ist am 29. Mai 2009 mit 75 Jahren in Stuttgart gestorben. Er war u. a. Mitbegründer der Kölner Kunstmesse Art Cologne und auch Mentor und Partner des heute in Berlin lebenden Top-Galeristen Max Hetzler, früher Stuttgart, der in der aktuellen "Spiegel"-Geschichte über die Mietschulden von Jeff Koons eine gewisse Rolle spielt.

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