Bauers Depeschen


Samstag, 15. August 2009, 366. Depesche



BETR.: ERINNERUNGEN



DAMALS, NACHTS



Es war während der Fußball-WM 2006. Als Portugal, mein ewiger Favorit und Verlier, ausgeschieden war, hätte ich beinahe eine wichtige Meldung in den ZDF-Nachrichten überhört. Der Sprecher teilte mit, in England werde die Sperrzeit in den Pubs aufgehoben, um künftig – ich zitiere – "das Kampfsaufen unter Zeitdruck" einzudämmen.

Zuvor hatten die britischen Pubs um 23 Uhr schließen müssen, was nicht hieß, dass danach nicht hinter verschlossenen Türen bis zum Morgengrauen grauenhaftes englisches Bier gezapft worden wäre.

Das Schicksal dieser armen Teufel erinnerte mich daran, wie entsetzlich schwierig es in den siebziger und frühen achtziger Jahren war, in Stuttgart nächtens bewirtet zu werden. Damals mussten fast alle Lokale um Mitternacht schließen. Bei Zuwiderhandlung stand zehn Minuten später die Polizei, in der Stadt als "Schmier" gefürchtet, am Tresen. Nur in Ausnahmefällen nahmen die Bullen, weil aufgeklärt oder korrupt, selbst einen Drink.

Wo heute das hässliche Schwabenzentrum mit seinen Nachtlokalen steht, befand sich besiedeltes Brachland. Mitten in der Stadt auf einem Acker, von den Bombern des Zweiten Weltkriegs hinterlassen, hatten Rotlicht-Wirte Baracken aufgestellt, vom Volksmund "Vereinigte Hüttenwerke" genannt. Immer freitags, wenn die Arbeiter in bar ausbezahlt worden waren, stieg hier mit gut trainierten Damen aus dem Milieu der sogenannte "Lohntütenball". Die Familien der männlichen Ballbesucher mussten danach eine Woche lang hungern.

Die Hütten-Siedlung der Abgestürzten und Ganoven wurde Nacht für Nacht von zwei alten Frauen mit einem mobilen Imbiss-Karren versorgt. Sie kredenzten fetten, scharfen Schweinebauch, und ein Mann mit einem Bein verkaufte, damit man zumindest äußerlich Haltung bewahrte, Schnürsenkel und Taschenkämme. Ich habe heute noch welche.

Von den damals halbwegs seriösen Lokalen im Stadtzentrum hatte allein die Weinstube Widmer (später Weinstube Fröhlich) eine Konzession bis zwei Uhr morgens. Die verkürzte Sperrzeit hatten Schauspieler, Sänger und Balletttänzer nach jahrelangem bürokratischem Kampf gegen die Nachtwächter im Rathaus mit Unterschriftenlisten und dem revolutionären Gedanken erstritten, auch die künstlerische Spätschicht habe ein demokratisches Recht auf einen guten Schlaftrunk.

Die Wirtin "Melle" Widmer, eine ehemalige Balletttänzerin, zeichnete sich durch die ihr eigene Freundlichkeit aus. Wer spät an ihre frühzeitig geschlossene Tür klopfte, wurde in breitem Schwäbisch aufgefordert: "Gang no, wo du herkommscht." Das ging aber nicht. Denn wo man gerade herkam, war bereits geschlossen. Einziger Lichtblick war noch das Café Weiß, das Sammelbecken der Schwulen und Huren, der Fußballprofis und Intellektuellen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Unter den professionellen Nachtgestalten wurden im Lauf der Zeit überall in der Stadt subversive Codes und Klopfzeichen entwickelt, um die Gesetze zu unterlaufen. Das griechische Ballett- und Fußballlokal Pireus in der Hasenbergstraße hatte ein Arrangement mit der Polizei getroffen. Immer wenn die Schmier nach zwölf auftauchte, hob oder senkte der Wirt Jürgen Kallergis unauffällig den Daumen. Gehobener Daumen bedeutete: Die Gäste sind in Ordnung, die Polizei kann gehen. Gesenkter Daumen: Die Gäste gehen mir auf den Zeiger, bitte räumen. Stammgast war dort nachts der Ballettdirektor John Cranko. Er tanzte oft mit seiner Kompanie auf den Tischen. Ein unvergesslicher Anblick: bezaubernde Damen mit kleinen Brüsten in engen Lederjacken mit Reißverschluss und noch engeren Jeans.

Es gab außer diesem Zufluchtsort die eine oder andere Disco (das AT!) und in letzter Not einige Rotlicht-Etablissements wie das berühmte Balzac (später Champaine) in Rathausnähe oder das Excelsior, wo fast immer hochrangige Herren der Kulturszene gastierten, die sich die Gangsterpreise leisten konnten.

In diesem Milieu arbeitete man nach jahrelanger Vorlauf- und Lehrzeit sich mühsam und meist pleite (im Jargon: "stier") durch die Nacht, ehe ein rettender Engel wartete, ausgerechnet in einer Bäckerei. Die gastfreundlichste Brotstube der Stadt gehörte und gehört bis heute der Familie Schmälzle in der Hauptstätter Straße. Der Chef reichte schon Stunden vor der erlösenden Öffnung seines Cafés, das war morgens um sechs, klammheimlich frische, heiße Nahrung aus dem Fenster der Backstube. Ohne die Schmälzles wären viele gute Stuttgarter Männer und Frauen für immer in der Nacht verloren gegangen. Das Café diente als letzter humaner Zufluchtsort der Stadt. Hier wurden Beziehungen zertrümmert und gekittet, Weltrevolutionen geplant und die Dichter Baudelaire und Proust vom Feuilletonisten und späteren Widmer-Wirt Hans Fröhlich in ihre sexualpsychologischen Einzelteile zerlegt.

Zum Glück gibt es die Schmälzes noch heute als Zeugen einer Zeit, in der es schlimmer zuging als in England, wo die Pubs um elf Uhr schließen und deshalb viele Männer in ihren Ehebetten sterben mussten.



Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten (mit Mr. Stuttgart 21):

www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer

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