Bauers Depeschen


Freitag, 02. Januar 2009, 270. Depesche



BETR.: STUTTGART



Das neue Jahr beginnt mit Aufgewärmtem, Quatsch: mit Frischem aus dem Kühlschrank. Alte Kollegen und Freunde von mir, die sich vor Jahren im Stuttgarter Redaktionsbüro Head-Line zusammengetan haben, bringen seit kurzem das deutsch-südwestlich orientierte Feinschmeckermagazin "eins - ah" heraus; es ist am Kiosk erhältlich. Ich selbst bin kein Feinschmecker, habe aber für das aktuelle Heft einen besucht:



KESSEL-BLICK



Manchmal bringt uns in der ewigen Stadt der Schaffer auch der Müßiggang Glück. Es ist Mitte November und kühl. Doch der Himmel hat sich so blau über die Hügel gelegt, als wolle er uns vor dem Winter bewahren. Wir sitzen auf der Terrassenmauer der Wielandshöhe und schauen von oben herab auf Stuttgart. Womöglich gibt es in der ganzen Stadt keinen schöneren Platz für ein Restaurant, und wenn das Gasthaus nicht schon einen Stern hätte, könnten wir uns, wenn es dunkel wird, einen greifen. Nirgendwo scheint das Firmament näher als hier.

Neulich war der Wirt und Koch Vincent Klink mit Notizblock und Fotoapparat in Italien, um für sein literarisches Magazin „Häuptling Eigener Herd“ über „La Cucina Napoletana“ zu berichten. Über „mangiare, amore e motore“.

Wüsste ich in lichten Momenten nicht genau, dass wir beim Blick über die Weinberge hinunter ins Tal am Boden des Kessels vergeblich das Meer suchen, würde ich sagen: Vince, lass uns Neapel spielen. Essen, Liebe und Motoren haben wir auch bei uns genügend. Gerade hast du den Dichter Giuseppe Marotta zitiert, die Neapolitaner würden „durch einen Vorhang von Spaghetti ins Leben“ treten, und erst vor drei Minuten hat mir dein bayerischer Wahnsinnskoch eine Schüssel schwäbischer Kutteln unter die Nase gehalten, und auch daraus ließe sich leicht ein Vorhang basteln für alle ungeborenen schwäbischen Helden.

Vincent Klink, 59, lebt und arbeitet seit 17 Jahren in Stuttgart, er hat nach seinem Umzug aus Schwäbisch Gmünd auf Anhieb die Höhen der Stadt eingenommen, nahe des gutbürgerlichen Stadtteils Degerloch mit erstklassiger Aussicht auf die Stadt und ihre Umgebung. Bei gutem Wetter kann er den Schwäbischen Wald sehen, und bei schlechtem erkennt er noch alle liebenswerten und peinlichen Eigenarten, die sich in diesem hügeligen Kesselgebilde namens Stuttgart angestaut haben.

Mein Gott, was gäbe es zu stänkern über diese Stadt. Über ihre einstmals erbärmliche Gastfreundschaft, diese ungehobelte Kundenabfertigung, als man die Gäste selbst in noblen Unternehmen hinausgeworfen hat, bevor die Herrschaften, wie Vince sagt, selbst zu vespern anfingen.

Das sind die alten Geschichten über den Geiz, über den Minderwertigkeitskomplex und den Selbsthass. In Wahrheit, sagt Vince, habe man diese schlechten Charakterzüge immer nur den Schwaben angedichtet, um den Rest des moralisch nicht weniger schäbigen Deutschland ein besseres Gewissen zu verschaffen. Den Deutschen, sagt er, sei es einfach zu lange mies gegangen, die meisten hätten vor und nach den Zeiten Weltkrieg unter schrecklicher Armut gelitten. Er erinnert sich an seinen Opa, einen Freizeit-Imker. Seiner Familie hat der Alte keinen Löffel Honig abgegeben. Er hat ihn verkauft und den Enkeln lieber Zucker aufs feuchte Brot gestreut.

Das alles ist lang her, doch die Klischees vom Geiz, von der Starrköpfigkeit und der Kehrwoche existieren bis heute. Vince lacht, und dann hat er diese gutmütigen, großen Clownsaugen im Gesicht. Am liebsten würde er sein Waldhorn holen und den Soundtrack einer neuen Zeit in die Stadt hinunter blasen. Früher, ja früher, da habe er sich selbst über die Kehrwoche lustig gemacht, aber das Resultat dieser Selbstreinigung, sagt er, empfinde er heute als angenehm: Es sei seit jeher eine schlimme Beleidigung für den Humanismus, wenn man seinen Müll bei anderen ablade. Neapel lässt grüßen. Richtig, füge ich hinzu, erst neulich hätte ich in Brooklyn und Midtown Manhattan Männer in feinen Anzügen beobachtet, wie sie am Abend den Gehsteig vor ihren Häusern mit Besen und Schaufeln reinigten. Das sei das neue Öko-Bewusstsein in der ganzen Welt, das wir schon lange hatten. Und dann ärgere ich mich, weil ich es gesagt habe, weil wir in dieser Stadt immer zu dummen und überflüssigen Vergleichen neigen.

Vince sagt, er finde Stuttgart klasse, es sei toll, hier zu leben. In jungen Jahren habe er den Traum gehabt, auf dem Land zu wohnen, in einem Häuschen in der Toskana. Vergiss es, sagt er. In Stuttgart fühle er sich von Kopf bis Fuß als südlicher Mensch, die ganze Stadt habe ein südliches Flair, und selbstverständlich hätten wir den vielen Ausländern das Meiste zu verdanken.

Manchmal setzt sich der Koch auf seine Moto Guzzi und fährt hinunter in die minutennahe Stadt. Er streift durch die Straßen des südlichen Stadtteils Heslach, besucht türkische Gemüseläden und freut sich an der Vielfalt der Ware, der Welt und tüchtigen Menschen.

Und er erzählt ihnen stolz, wie sein Feigenbaum in seinem Garten den Winter überlebt hat, genau wie der Olivenbaum und der Lorbeer. Der Wille zum Leben, die Charaktereigenschaft, nicht aufzugeben und von vorne anzufangen, wie wir es von den Amerikanern kennen – das sind schwäbische Tugenden, sagt Vince. Diese Kampfbereitschaft halte im Zweifelsfall auch den Feigenbaum in dieser Gegend aufrecht, der Klimawechsel könne es nicht sein. Mit Esoterik hat das nichts zu tun. Eher mit der Philosophie, dem „gedanklichen Gaisburger Marsch“, wie der Stuttgarter Humorist Oscar Heiler die schwäbische Neigung zum Grübeln mal genannt hat. Wir Schwaben werden noch eine ganze Weile leben, sagt Vince, wenn der Rest der Republik bereits hinüber ist.

Vince hat beobachtet, wie bei den Straßenpartys der Fußballweltmeisterschaft vor zwei Jahren ein Ruck durch die Stadt ging. Eine Zäsur, sag er. Er hat viele junge Leute getroffen, eine andere Generation, weltoffene Menschen aus dem eigenen Stall. Stuttgart, sagt er, ist heute eine junge Stadt, ein vitaler Mix aus urbaner Kultur und grüner Pampa. Und rein gastronomisch der beste Platz der Republik, kein Vergleich mit München. Ein einzigartiges Qualitätsbewusstsein zeichne die Menschen hier aus: Wer seine Sache gut macht, sagt er, der wird anerkannt, in Stuttgart hast du keine Chance, den Leute mit kulinarischen Taschenspielertricks, mit Maskerade und Schnickschnack etwas vorzumachen.

Bei Gott, die Perspektive von der Terrasse der Wielandshöhe ist paradiesisch an diesem Tag. Würden die altvorderen Stuttgarter, sagt Vince, bloß nicht in ihrem Hang zum Selbsthass, in ihrer krankhaften Verachtung der Schönheit, nicht bis heute die eigenen Pfründe zerstören. Unten auf dem Schlossplatz, dem schönsten Quartier der Stadt mit dem neuen Kunstmuseum, haben sie bereits im Oktober den hässlichen Rummelplatz für die Eislaufbahn aufgebaut. Dauernd diese Verbrechen an der Architektur, sagt der Koch, ausgerechnet in Stuttgart, das man mal die Stadt der Architekten genannt hat.

Vince geht und bringt Sauerkrautsuppe. Löffel gibt es keinen. Schlürfe die Suppe wie heißen Kaffe, sagt er. Man weiß sich zu helfen über dem Tal, wenn der Winter in den Süden kommt.



REKLAME:

- Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten:

www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer



- Nächster Flaneursalon: Mittwoch, 18. Februar 2009, Theater Rampe, Filderstraße 47, Stuttgart. Letzter gemeinsamer Auftritt von Ralf Groher & Stefan Hiss als LOS GIGANTES. Weitere Gäste: Dacia Bridges & Alex Scholpp. Beginn 20 Uhr. Karten 0711 / 6 20 09 09 - 16.

(In der Depesche vom 31. 12. 2008 erfahren Sie, was es mit dem schwimmenden Flaneursalon auf sich hat.)



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