Bauers Depeschen


Freitag, 11. Juli 2008, 188. Depesche

Betr.: Rosenau Open, Berliner Platz



Die für 17. Juli geplante Open-Air-Show „Stuttgart is my Lady“, eine Veranstaltung der Rosenau mit Stuttgarter Künstlern, hätte in diesem Jahr zum ersten Mal auf der Freilichtbühne Killesberg stattfinden sollen. Aber der Vorverkauf lief schlecht, der Abend wurde abgesagt. In den Jahren zuvor war das Festival mit jeweils 1200 Besuchern auf dem ausverkauften Berliner Platz über die Bühne gegangen. Dann kam die selbsternannte Ästhetik-Polizei, und das Festival wurde von der Stadt, mit maßgeblicher Hilfe der Grünen, verboten. Hier eine kleine Geschichte über den neu gestalteten Berliner Platz – ich habe sie vor dem Festival-Verbot geschrieben:



GIFTPILZE



Ein Sonntagabend im Spätsommer, das Treppengeländer an der Seidenstraße hinauf zum neu gestalteten Berliner Platz vor der Liederhalle leuchtet blau. Das Treppengeländer ist so läppisch blau gestrichen wie oben die Stahlträger des Eingangs zur Tiefgarage. Man wähnt sich am Limonaden-Kiosk einer Badeanstalt.

Der neue Platz ist menschenleer, die stilisierten Torbögen mit den vereinzelt rankenden Rosen stehen am Rande Spalier, als käme gleich der Baubürgermeister Hand in Hand mit seinem kurzsichtigen Architekten daherstolziert. Vierkantige Betonpfeiler mit Leuchten warten kindsköpfig auf die Dunkelheit, auf der anderen Seite des Platzes stehen riesige Metallblüten herum, wie Giftpilze mit Krebsgeschwüren.

Menschen sind nicht auf dem Platz, die schwatzen lieber unten auf dem Asphalt vor dem Eingang der Liederhalle, wo das Europäische Musikfest mit Mahlers Siebter beginnt. Wie die meisten Plätze der Stadt ist das Gelände tot. Betreten, ach was, unbetreten schaut der Berliner Platz in die Welt, als habe ihn einer mit dem Glätteisen traktiert. Am Häuschen zur Tiefgarage haben die Graffiti-Sprayer lustlos Zeichen hinterlassen: "Che Guevara" lese ich, und darunter, als sei der Sprayer gerade von einem Oberlehrer abgefragt worden, "Ernesto".

Sonntagabende sind nicht die besten Abende, um nach Überlebenden in den Quartieren der Stadt zu suchen. Gegenüber der Liederhalle, auf dem Bosch-Areal, könnte ich sämtliche Menschen im Freien mit einer Lidl-Tüte einfangen. Das Bosch-Areal hat mit dem Berliner Platz optisch nichts zu tun. Als stünden sie sich feindlich gegenüber.

Vor dem Monsterlokal Mash hat man einen Sandkasten für Erwachsene angelegt. In dem Sandkasten stehen Strandkörbe und Liegestühle herum, die Liegen sind mit gelbem Stoff bezogen, auf dem gelben Stoff leuchtet das blaue Logo eines griechischen Seifen-Cognacs, als wolle man das Treppengeländer des Berliner Platzes grüßen. Der Sandkasten wirbt für Metaxa. Die Griechen kennen viele Tragödien.

Der benachbarte Club Paris, einst vielversprechend unter dem Namen des argentinischen Lebemanns Rubirosa gestartet, kündigt Pokerturniere an: "Hammer Preise und Frühbucherbonus", es gibt einen Flachbildschirm und VfB-Karten zu gewinnen. Ein paar Schritte weiter ist der Club M1 längst hinüber. Es gibt einen neuen Laden, und die neuen Läden werden wie immer älter aussehen als die alten.

Der lebendigste Außenposten fürs Publikum auf dem Bosch-Areal ist das Literaturhaus. Normalerweise braucht man keine Literaturhäuser mehr. Überall, wo sich in der Stadt ein Loch auftut, tauchen Investoren aus der Unterwelt auf und überfallen die Bevölkerung mit Ideen: Sie planen Einzelhandel und Gastronomie und ein Luxushotel mit Flachbildschirmen. Manchmal, wenn den Investoren besonders viel einfällt, planen sie Kaufhäuser, Restaurants und ein Fünf-Sterne-Hotel mit Pokerturnieren.

Den schönsten Laden auf dem Bosch-Areal findet man am Rande des Quartiers, die Piano Bar im Hotel Maritim. Es ist ein warmer Sonntagabend, und die alte Piano Bar riecht trotz des allgemeinen Nikotinverbots nach kaltem Rauch, als hätte Rubirosa am Vorabend seine Letzte ausgedrückt, bevor er in seinen Ferrari gestiegen und in den Tod gefahren ist. Gleich werden die ersten Gäste in die Bar kommen und später die Gäste, die Mahlers Siebte erlebt und auf dem Bosch-Areal keinen Platz für ihre Überlebensgespräche gefunden haben.

Ich muss jetzt schauen, dass ich zu Fuß heil über die Straßen und Gleise des Berliner Platzes komme. Der Berliner Platz ist der Beweis dafür, dass Stuttgarts Stadtplaner schlimmere Verwüstungen angerichtet haben als die britische und amerikanische Luftwaffe zusammen. Eines Tages wird mich auf dem Berliner Platz frontal die Stadtbahn erwischen, da bin ich mir sicher. Vorher aber werde ich das blaue Treppengeländer an der Seidenstraße hinunter rutschen. Etwas Besseres gibt es hier nicht zu tun.



P. S.: Der neu gestaltete Berliner Platz ist ein Werk des Stuttgarter Moralapostel-Architekten Roland Ostertag. Der ließ Postkarten mit abgebildeten Müllsäcken verschicken, die er hinter den Gastro-Buden des einstigen Open-Air-Kinos auf dem Platz fotografiert hatte. Mit dieser dummdreisten Propaganda alter Schule zog er gegen die angebliche Verschandelung der Berliner Platzwüste zu Felde. Bald darauf gab er dem Gelände den Rest.



- Nächster Stuttgart-Auftritt: 15. Oktober, Theaterhaus:

Zehn Jahre Joe Bauers Flaneursalon,

die Jubiläumsshow mit Los Gigantes, Michael Gaedt & Michael Schulig,

Dacia Bridges & Alex Scholpp.



- Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten:

www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer



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