Bauers Depeschen


Dienstag, 18. Dezember 2007, 94. Depesche



DIE WEISSE KRÄHE



Unsere Lieder- und Geschichtenshow "Joe Bauers Stuttgarter Krähen" mit Eric Gauthier und Dacia am vergangenen Montag im Literaturhaus ist abgehakt. War ein schöner Abend, 170 Besucher. Die Krähen fliegen fort, am 19. Februrar tritt der reguläre Flaneursalon mit Los Gigantes und Michael Gaedt in der Rosenau an. Mittlerweile habe ich White Crow, die Weiße Krähe, im Weltweihnachtscircus gesehen. Die Artisten-Show auf dem Wasen ist und bleibt der beste Unterhaltungsabend des Jahres, zur Feier des Tages habe ich mir am Souvenir-Stand im Vorzelt für zehn Euro ein blaues Kissen mit roter Clownsnase gekauft.

Die folgende Geschichte ist nicht im Winter entstanden, könnte aber als Weihnachtsgeschichte durchgehen:



DIE BRÜCKE



Es ist Sonntagnachmittag, als ich am Kelterplatz in Zuffenhausen aus der Stadtbahn steige. Ich habe mich daran gewöhnt, an Baustellen zu landen. Der Kelterplatz ist eine Baustelle. Sonntage sind keine guten Tage für Spaziergänger, sonntags haben die Straßen und Häuser nicht viel zu erzählen. Ich hatte keinen Grund, nach Zuffenhausen zu fahren. Zuffenhausen war ein Gefühl.

Ich biege rechts ab in Richtung Unterländerstraße. Die Unterländerstraße ist die Hauptgeschäftsstraße von Zuffenhausen. Ich gehe die Straße entlang, ohne mir Notizen zu machen. Sonntags taugen Notizen nicht viel. Ich kann in den blinkenden Bauch eines Spielcenters sehen, die verwaisten Automaten, den einsamen Mann am Eingang. Eine entfernte Kollegin winkt mir aus einem Straßencafé zu. Das freut mich. Es ist gut, wenn man jemanden kennt in Zuffenhausen.

Die Unterländerstraße endet in einer Brücke, eigentlich sind es zwei Brücken, eine für die S-Bahn, eine für die Eisenbahn. Die Brücken sind alt, nur drei Meter sechzig hoch. Ihre Stahlträger lassen ahnen, dass Brückenbauen große Kunst ist, Artistenkunst, auch bei kleinen Brücken. Die Stahlträger der Eisenbahnbrücke sehen aus, als seien sie mit trotziger Fantasie geschmiedet worden. Es sind nicht kompakte Metallstücke wie Schienen, sondern grob gemusterte Pfeiler mit Löchern zum Durchschauen. Gangsta-Rapper würden solche Teile um den Hals tragen.

Ich gehe durch die Brücke und setze mich auf die Bank an der Haltestelle Zahn-Nopper-Straße. Ich warte auf die Linie 15 nach Stammheim. Diese Bahn hat der Theaterdirektor Claus Peymann in der RAF-Ära der siebziger Jahre als Film in Albert Camus' Drama "Die Gerechten" eingeblendet und damit einen politischen Skandal ausgelöst. Es ist eine meiner letzten Fahrten mit der alten Fünfzehn, sie muss einer moderneren Bahn weichen.

Auf der Bank vor dem Brückentunnel betrachte ich lange das virtuose Gewirr der Oberleitungen. Die Drähte scheinen nicht sehr hoch gespannt, als könne sie ein guter Basketballspieler oder ein Artist im Sprung erwischen. Sonntags in Zuffenhausen kann manches täuschen.

Als die Bahn kommt, setze ich mich auf den Platz vor einem jungen Paar, das Paar ist schon früher eingestiegen. Heimlich schaue ich nach hinten. Mir gefällt, was ich sehe. Der Junge trägt eine Baseballmütze, das Mädchen schwarze Haare über einer rosa Jacke, und beide haben sie die Stöpsel eines MP3-Players im Ohr.

Der Junge seinen Knopf im linken Ohr, das Mädchen ihren im rechten. Es sieht lustig aus, zwei Menschen aneinander gekabelt, womöglich für immer. Wenn sich Mann und Frau zwei Ohrstöpsel teilen, muss es Liebe sein. Stereo kann man nicht einfach teilen wie eine Flasche Schnaps.

"Ich halte das nicht mehr aus", sagt das Mädchen. Der Junge schweigt. "Sag ihr, dass sie mir etwas aufheben muss", sagt das Mädchen, "ich kann nicht mehr." Der Junge kann auf dem linken Ohr nichts hören. Er sagt nichts. "Ich gehe nicht mehr heim, wenn wir heute nicht mindestens zwei Gramm auftreiben", sagt das Mädchen.

Wir fahren am Pragfriedhof vorbei, und ich frage mich, wer wohl die lustige Idee hatte, das Restaurant vor dem Friedhof Apostel zu nennen. Eines Tages, wenn sie mich zum Pragfriedhof fahren, werde ich den Kutscher zum Halten zwingen. "Ich muss erst noch zum Apostel", werde ich sagen. "Trinken Sie einen mit, Herr Kutscher?"

"Ich kann nicht mehr", sagt das Mädchen. "Wenn wir heute nichts auftreiben, pumpe ich mir Luft in die Vene. Ich habe keinen Bock mehr auf Schmerzen. Ich gebe mir eine Überdosis Luft."

Der Junge schweigt, er sitzt regungslos, und beide haben sie ihren Stöpsel im Ohr. Am Hauptbahnhof steige ich aus und kaufe mir eine Flasche Wasser. "Bitte ohne Kohlensäure", sage ich zur Verkäuferin.

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