Bauers Depeschen


Sonntag, 10. Dezember 2017, 1885. Depesche



 

Heute im Kunstverein:

DEUTSCHLAND IM HERBST

Im Beiprogramm der großartigen Ausstellung "Alexander Kluge. Gärten der Kooperation" zeigt der Württembergische Kunstverein an diesem Sonntag den Film "Deutschland im Herbst", die legendäre Gemeinschaftsarbeit elf namhafter Regisseure, darunter Alexander Kluge. Vor Filmbeginn trage ich meine Geschichte über die Trauerfeier nach der Stuttgarter Beerdigung der RAF-Mitglieder vor. 16.30 Uhr.



DIENSTAG

12.12.: FLANEURSALON im Schlesinger. Bei Bedarf Essen ab 18 Uhr. Beginn 20 Uhr. Restkarten an der Abendkasse.



DIESEN TEXT habe ich neulich bei der "Nacht der Lieder" im Theaterhaus vorgetragen (ich mache hiermit auch darauf aufmerksam, dass der Vorverkauf für 2018 schon jetzt auf Hochtouren läuft):



Es hat sich viel ereignet seit der Nacht der Lieder im vergangenen Jahr – und aus gegebenen Anlass will ich Erich Kästner zitieren, Sätze die er 13 Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors gesagt hat:

„Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat." Damit zu meiner Glosse:

DER FILZPANTOFFELHELD

Noch selten habe ich vergessen, den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Meistens gehe ich kurz vor Schluss, die Liedzeile „Macht hoch die Tür, das Tor des Tresors macht weit . . .“ gilt ja in unserem Primark-Konsum bis Heiligabend. Was ich auf dem Weihnachtsmarkt zu suchen habe, ist leicht zu beantworten: Dinge, die die Welt nicht braucht. Ich leide an der Sucht, unnützes Zeugs und hässliche Souvenirs zu kaufen. Kaffeetassen, aus denen man nicht trinken kann, ohne dass einem bei ihrem Anblick schwindlig wird. Schreibstifte, die eine Einweisung ihres Besitzers in die Geschlossene rechtfertigen. Und mit feinem Gespür für das Gesamtkunstwerk besitze ich Kapuzenjacken, die man guten Gewissens ausschließlich in der Geschlossenen tragen kann.

Einmal auf dem Weihnachtsmarkt habe ich mir Notizen mit einem Füllfederhalter der Marke Harley-Davidson gemacht. Dieses Monstrum habe ich mir einst im Schreibwarengeschäft Bublitz in der Bolzstraße besorgt; leider musste dieser Laden später einer Bar weichen. Der Harley-Füller spiegelt mein konsequentes Leben: Sein Design erinnert an einen Motorkolben, ich bin Fußgänger. In den vergangenen Jahren habe ich mir auf dem Weihnachtsmarkt unter anderem einen kleinen VW-Bus, einen daumengroßen Schutzengel und zwei Paar Filzpantoffeln gegönnt. Filzpantoffeln an den Füßen sind lächerlicher als alles, was ein nackter Mann vorzeigen kann. Doch nähren sie meine Illusion, gut gewärmte Füße könnten etwas Blut bergauf Richtung Gehirn pumpen. Wozu ich zwei Paar Filzpantoffeln von derselben Sorte habe, können im Übrigen nur lebensfremde Ignoranten fragen: Weil ich mindestens eins der zwei Paare in meiner Wohnung nie finde.

Es wäre verdammt stillos, meine Füße unterm Schreibtisch in eines meiner sechs Paar Badelatschen aus dem Drogeriemarkt zu stecken. Wenn du mit Billig-Badelatschen und meiner Kapuzenjacke mit dem Aufdruck „Punk Rebel“ am Schreibtisch sitzt, bist du erledigt. „Punk Rebel“-Kapuzenjacken kombiniert mit Filzpantoffeln vom Weihnachtsmarkt haben dagegen Klasse. Sind entschieden attraktiver und cooler als die weiß-roten, am VfB orientierten Weihnachtsmännermützen auf den Köpfen fuselweinverglühter Figuren, die den Weihnachtsmarkt bis zum Erbrechen karnevalisieren.

Es ist Zufall, als ich unseren Weihnachtsmarkt Jahr einen Tag nach dem Sattelschlepper-Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche besuche. Ein Polizist vor dem Rathaus sagt mir, es seien weniger Menschen gekommen als in den Tagen zuvor. Vor meinem Weihnachtsmarktausflug hat mir einer meiner letzten Freunde, ein Musiker, geraten, unbedingt nach Engeln von Wendt & Kühn Ausschau zu halten: Engel von Wendt & Kühn seien das Größte. 2015 hat die Holzfiguren-Firma aus dem Erzgebirge ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert. Weltberühmt sind bis heute ihre Musiker-Engel: Schlagzeuger, Posaunisten, Harfenisten. Alles. Mit diesen Engeln kannst du ein harmonisches Ensemble zusammenstellen oder ein großes Chaotenorchester, auch Groko genannt.

Als ich auf dem Markt bin, spielen Kinder vor der Stiftskirche mit Blockflöten „Es ist ein Ros’ entsprungen“. Musikanten von Wendt & Kühn aber finde ich trotz intensiver Suche nirgendwo. Das ist bitter. Ohne Beute kann ich nicht nach Hause gehen, und ein drittes Paar Filzpantoffeln erscheint mir angesichts der allgemeinen Weltlage etwas dekadent.

Engel anderer Marken als Wendt & Kühn kommen an diesem Tag nicht infrage, und holzgeschnitzte Kamele, Lamas und Löwen kann ich moralisch nicht mehr verantworten: Stünden diese Tiere unter meinem Filzpantoffel, wären sie ein Schlag ins Gesicht unseres humanistischen Gemeinderats, der Wildtier-Haltung in Zirkussen verboten hat. Über die Menschenhaltung in einer Stadt, in der sich bald nur noch die Reichen eine Wohnung leisten können, hat er nichts gesagt.

Auf dem Markt bleibe ich am am Stand einer Töpferei hängen. Ihre Tassen passen nicht in mein häusliches Repertoire: nicht hässlich genug. Dann allerdings entdecke ich einen „Knoblauchtopf“, eine mir bis dahin unbekannte Errungenschaft der Evolution. Handarbeit, ein formvollendetes Werk mit Deckel und Löchern, wesentlich kleiner als ein deutscher Nachttopf.

Dazu muss man wissen: Ich bin der einzige Mensch, den ich kenne, der nicht kochen kann – und es im Gegensatz zu vielen anderen mit ähnlichem Talent als totale Küchenniete auch nicht tut. Doch weiß ich als glühender Verfechter der neoliberalen Weihnachtsmarktwirtschaft, dass ein Mann, der niemals kocht, einen Knoblauchtopf mit Löchern besitzen muss. Nur so kurbelt er die Konjunktur an.

Die Frage, wozu ich einen Knoblauchtopf brauche, schreit nicht unbedingt nach einer Antwort. Doch liefere ich Ihnen gern eine: Ich werde in diesem Gefäß künftig meine Gesinnung lagern. Die Löcher im Topf und der Deckel zum Öffnen werden verhindern, dass meine Gesinnung zu faulen beginnt wie eine Knoblauchknolle, die keine frische Luft bekommt. Wenn ich meine Gesinnung brauche, ist sie frisch und genießbar, auch wenn sie für den einen oder anderen sehr befremdlich riecht. Kein Jahr nach meinem Erwerb des guten Stück hat die CDU ihre Strategie zur Abweisung von Flüchtlingen in Anlehnung an meinen Koblauchtopf „Atmender Deckel“ genannt. Das stinkt zum Himmel.

Im Lauf meines Lebens habe ich gemerkt, dass spezielle Gesinnungen, die ungelüftet in Köpfen lagen wie in Töpfen ohne Luftlöcher, zu gären und zu stinken beginnen. Kurz bevor der Schädel explodieren könnte, suchen sie sich einen Ausgang und dringen nicht nur durch aufgerissene Mäuler in die ohnehin zerstörte Umwelt ein. Meist landet das Gift aus den Köpfen in den asozialen Netzwerken, auf Twitter und Facebook, vorzugsweise wenn die Gesinnungsträger gegen Menschen hetzen, die sie nicht kennen und von denen sie nichts wissen. Die Auslöser dieser Giftangriffe nennen sich oft „Andersdenkende“, gerade so, als hätten sie schon mal über ein anderes Denken als ihr eigenes nachgedacht.

Nach meinem Weihnachtsmarktbesuch bekam ich im Fernsehen mit, wie der Frankfurter Philosoph Thomas Metzinger in einem Interview sagte, der heute herrschende und verbreitete Hass in den sozialen Medien erinnere ihn an eine alte Weisheit, die da lautet: Man trinkt einen Becher Gift und hofft, dass der andere davon stirbt.

Damit, denkt der Filzpantoffelheld, ist alles gesagt über den Gesinnungstopf. Der Gestank von gestern kann das Gift von heute sein. Und der Schnee von gestern die Lawine von morgen. Dann fallen die Engel aus allen Wolken.





 

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