Bauers Depeschen


Dienstag, 21. November 2017, 1875. Depesche



Ein bisschen anregender Austausch wäre schön:

Hier der Klick zum Manuskript: BEITRÄGE SCHREIBEN IM LESERSALON



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

SING, BOB, SING

Ich weiß nicht mehr, wie spät es war in der Nacht zum 20. November 2017, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde und schweißnass zum schussbereiten Taschentelefon an meinem Bett griff. Ich tippte die Notrufnummer ein, aber der Bildschirm blieb schwarz wie die Nacht vor meinem Rollladen. Der gottverdammte Akku war leer. Beißender Qualm hatte bereits meine Bude bis unter die Decke gefüllt. Ich musste husten wie ein Kohlekraftwerk und konnte nichts sehen außer ein paar Blitzen am Rauchmelder. Aber das Scheißding reagierte nicht. Der Kapitalismus hat Rauchmelder nicht erfunden, um Leben zu retten. Er will damit Profite machen. Wenn du an der neoliberalen Gewinnmaximierung erstickst, interessiert das keinen FDP-Typen.

Es war beängstigend still um mich herum, so still es nur sein kann, wenn Gevatter Tod vor deinem Bett steht. Oder der Russe. Aber da ich außer dem Taschentelefon auch einen Baseballschläger neben meinem Bett liegen habe, griff ich mir das Ahornholz und sagte: Keine Panik, erst einmal sondieren.

Und dann sah ich ihn durch den Nebel: Neben dem Schrank kauerte ein Typ mit Dreitagebart und zog an einer gewaltigen Tüte. Keine Ahnung, wie er sich diesen Dübel gebaut hatte, ungefähr so groß wie am Hölderlinplatz die hässliche Kunststoff-Stele zu Ehren des Dichters, die aussieht wie ein tätowierter Joint.

Hey, Mann, sagte ich zu dem Dreitagebart – und steckte ihm das Ladekabel meines Taschentelefons ins rechte Nasenloch: „Digital first – Bedenken second“. Leider habe ich keinen Balkon, sonst hätte ich dem Kerl an der frischen Luft Gelegenheit gegeben, unten dem Volk mit den erhobenen Mistgabeln zu winken. Fuck Jamaika, hätte ich von oben gerufen. Plötzlich aber löste sich der Typ in die wichtigste körperliche und intellektuelle Grundsubstanz seiner Existenz auf: Lindner war Luft.

Langsam dämmerte mir, dass ich geträumt hatte. Ich musste mich irgendwie beruhigen, auch weil sich zum politischen Grauen inzwischen das Morgengrauen gesellte. Jamaika war baden gegangen, Merkel wankte, und auf der Straße riefen die Aufrechten: Anarchy in Germany!

Was aber kann ein einsamer Mann tun an einem kalten Morgen, hundert Jahre nach der Novemberrevolution. Ich kippte etwas braunen Rum in meinen Blue-Mountain-Kaffee, öffnete alle Fenster meiner Wohnung und legte eine Scheibe auf. Bob, sagte ich, heute musst du alles geben! Yeah, Mann, sagte Bob, und dann schallte es durch den Stuttgarter Westen: „Re-vol-ju-schon, ­Re-vo-lju-schon . . .“. Ich sang mit, so gut ich konnte, und schepperte mit meinem Tambourin im Viervierteltakt, dem einzigen Takt, den ich beherrsche außer der Fünf-Minuten-Terrine. Besonders leidenschaftlich stieg ich ein an der Stelle, an der Bob singt , dass du keinem Politiker trauen darfst. Sie wollen dich nur alle machen.

Vermutlich traut mir keiner zu, dass ich Reggae-Platten von Bob Marley The Wailers höre. Diese Hupfdohlenmusik. Aber das täuscht. Ich bin ein Rastamann, besitze einen Sommerhut aus Hanf und erinnere mich, wie einst viele von uns in harten Nächten spezielle Jamaika-Koalitionen geschmiedet haben, ohne dass es ein neoliberaler Dreitagebart gewagt hätte, in seinem Egotrip-Delirium aus der Sondierung auszusteigen. Damals allerdings hatten wir nichts Gelbes im Boot. Kam nicht in die Tüte. Es ging um nichts weniger als um alles: ein neues Leben, eine neue Gesellschaft und die bewusstseinserweiternde Koalition aus Schwarzem und Grünem Afghan. Nur manchmal, wenn bei diesen Sondierungsritualen nicht allein der heilige Rauch die Rastalocken auf meiner Glatze umschmeichelte, weil sich Proleten wie ich mit dem profanen Stoff von Dinkelacker benebelten, kam es zu Szenen eklatanten politischen Versagens. Dann verpuffte Bobs realpolitische Forderung „Get up, stand up for your rights“. Wie hätten wir uns für unsere Rechte erheben und den Sieg der Revolution feiern sollen. War es doch schwierig genug, zum Protestpinkeln gegen die CDU auf dem Balkon anzutreten. Mit einem Extrastrahl für die SPD.

Nach dem jähen Aus fürs Berliner Dreifarbenhaus trotz aller wütender Benimmappelle unseres Dschamaika-Diplomaten Kretschmann sagte die Kanzlerin: „Es ist ein Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland.“ Fragt man sich nach diesem Satz mindestens tief irritiert, was Merkel wohl geraucht hat, wird es einem richtig schwindlig beim Kommentar der grünen Frontfrau Göring-Eckardt: „Ich will ausdrücklich sagen, dass ich davon ausgehe, dass dieses Bündnis hätte zustandekommen können.“ Für dieses Gestammel kann nicht mal mehr ein Joint in Kanonenrohrgröße verantwortlich sein. Diese Formulierung riecht nach einer Bewusstseinstrübung, die so schnell auch nicht mit grüner Medizin geheilt werden kann, weil nach dem Ende des Sadomaso-Dreiers nicht mal mehr an eine Cannabis-Freigabe für Cem Özdemir zu denken ist.

Großer Gewinner des deutschen Regierungsschlamassels aber ist Jamaika: Endlich wird der schöne Name dieses armen Landes nicht länger für die Rudelbildung der Berliner Balkonpolitiker missbraucht. Sing, Bob, sing – und rauch noch eine Tüte auf die Revolution.



 

 

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