Bauers Depeschen


Mittwoch, 04. Oktober 2017, 1855. Depesche

 

DEMO-HINWEIS

Für Donnerstag, 19. Oktober, rufen zahlreiche Initiativen und Organisationen, von den Anstiftern über Verdi bis zum Wasserforum, anlässlich der Haushaltsberatungen im Stuttgarter Rathaus zu einer Kundgebung auf dem Marktplatz auf. Motto: "Ihr spart uns kaputt und krank! - Es ist genug für alle da!" Redner der Initiativen behandeln Themen wie fehlendes Krankenhauspersonal, Wohnungsnot und die selbstausbeuterische Kultur der Off-Szene. Beginn: 16.30 Uhr.



Es gibt noch Restkarten für den FLANEURSALON am Dienstag, 17. Oktober, im Club Four 42 in Untertürkheim. Beginn 20 Uhr. Mit Rolf Miller, Loisach Marci, Anja Binder: EASY TICKET



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

STRESS

Schon lange denke ich darüber nach, wie Stress entsteht. Jetzt habe ich die Antwort. Man tut so lange alles, was man nicht kann, bis man feststellt: Auch das ist zu wenig.

Es war vor der Bundestagswahl, als wandelnde Stressfaktoren wie Cem Özdemir und Martin Schulz uns so schrecklich langweilten, bis sich die Menschheit auf der Suche nach Entspannung wieder mal dem vergnüglichen Thema „Stress und seine tödliche Folgen“ widmete. Ins Zentrum dieser Beschäftigung geriet unsere kleine Gemeinde, als behauptet wurde, Stuttgart sei die „stressfreiste Stadt der Welt“. Eine Berliner Start-up-Firma aus der Reinigungsbranche hatte Daten sammeln lassen, sie gekocht, geschleudert und gebügelt. Was man halt so treibt im Wäschereigewerbe, wenn man einen auf dicke Hosen macht.

In der stressfreisten Stadt der Welt wurde die Auszeichnung geteilt aufgenommen. Der psychisch labile Teil der Bevölkerung fand sofort einschlägige Beweise für die Lockerheit im Kessel: Nirgendwo findest du zwischen so vielen lärmenden und Dreck aufwühlenden Baustellen einen so entspannten Ort wie den Eckensee – bevor er demnächst zugebaut wird.

Der noch geistig halbwegs gesunde Teil der Bevölkerung verbreitete unterdessen Witze von der Sorte: Nirgendwo fühlst du dich so stressfrei wie am Steuer eines Daimler-Cabrios in den kilometerlangen Staus unserer Stadtautobahnen – schon weil dank Feinstaub und Lungenkrebs das schnelle Ende naht. Auch die Möglichkeit der Bürger, jederzeit dämmend in den Stresshaushalt der Stadt einzugreifen, kam zur Sprache: Seit jeher genügt es, einen Luftballon vom Volksfest Richtung Oberleitungen steigen zu lassen, um das nervende Rattern bei der Ankunft stets unpünktlicher S-Bahnen für lange Zeit abzustellen.

Eine große Chance, sich nach Akkordarbeit, Mobbingsport und VfB-Spiel seines aufgestauten Zorns zu entledigen, eröffnet das Volksfest selbst: Nach den lustigen Grapsch- und Saufritualen auf dem Wasen wird der Ärger über den stresshaltigen öffentlichen Nahverkehr im Bereich der Bahnen von massenhaft herumschwirrenden Dirndl und Lederhosen nachhaltig ausgekotzt. Solcher Protest zeugt von einer Stadtgesellschaft, die nicht alles schluckt und verdaut, was ihr vorgesetzt wird.

Die Berliner Reinigungsfirma hat das Thema Stress gewählt, um sich irgendwie bemerkbar zu machen im Sumpf des freien Marktes. Stress ist immer wieder in Mode – und seit einiger Zeit der dazugehörige Begriff „Resilienz“ in aller Munde. Er steht für die Fähigkeit, ungesunde Belastungen und Schadenereignisse zu bewältigen. Resilienz handelt nicht nur vom Umgang mit Naturkatastrophen, sondern vom Abbau des menschlichen Stress’. Von der Möglichkeit, Ängste, negative Reize und chronische Erschöpfung zu bewältigen. Symptome, die sich massenhaft ausbreiten und nicht alle durch Yoga geheilt werden können, solange es die wenigsten schaffen, sich dem Stress von Anti-Stress-Übungen mit Namen wie Sonnengruß und Kobra, Krieger und Hund auszusetzen.

Ersatzweise zwängen sie sich deshalb in Dirndl oder Lederhose, um mit dieser Kostümierung und reichlich Plörre auch die letzten Hemmungen fallen zu lassen und in totaler Uniformität ihr berauschendstes Wir-Gefühl neben dem Besuch von Primark zu erleben. Sollte im kollektiven Promilleorgasmus doch noch ein Elementarteilchen Stress im Hirnbereich überlebt haben, wird es zusammen mit anderen Zellen von der Bierpalastmusik getötet.

In einem Buch des Schweizer Psychologen Georg Hassler habe ich gelesen, die Hauptschuld an Stresskrankheiten trage unser verkümmertes Wir-Gefühl. Eine soziale Harmonie, gewissermaßen ein neu erwachter Nachbarschaftssinn, würde die Resilienz stärken und helfen, Stress und Ängste zu überwinden. Der Autor empfiehlt dafür nicht unbedingt Massenbesäufnisse, sondern die Hinwendung zu moralischen Werten: Solidarität könne „das Ranglisten-Denken in ein Wir-Gefühl überführen“ und damit das stressige Wettbewerbsdenken abbauen.

Daraus schließe ich als Amateurpsychologe, dass es kaum ungesündere Stressfaktoren gibt als Rankinglisten, die den Leuten den Schwachsinn unterjubeln, in Stuttgart lebe man stressfreier als in Hannover oder Hongkong. Beim schnellen Blick auf den sommerlichen Schlossplatz mag dieser falsche Eindruck entstehen, wenn unsereins – von Rat- und Einfallslosigkeit bis zur Apathie gestresst – auf einem Caféstuhl hängt. Niemand aber nimmt den Stress der Bedienung wahr, die sich für Mindestlohn ihre Feinstaublunge aus dem Leib rennt – bei den Gästen aber null Wir-Gefühl aufkommt, sobald es ums Trinkgeld geht. Keine Widerrede! Nach meiner Datensammlung, die kaum unseriöser ist als die Rangliste einer Wäscherei, haben Solidarität und Trinkgeldmoral in den Stresszonen der Gastronomie der Stadt erschreckend nachgelassen.

Das Prädikat „stressfreiste Stadt“ können einer Gemeinde wie Stuttgart nur Pfeifen anheften, die nie in die Stressfallen eines an sich stressfrei angelegten Naturorts wie dem Platz der Stuttgarter Kickers geraten sind. Nicht nur, dass uns auf der Stehtribüne die seltsamen Anti-Stress-Übungen unserer Spieler regelmäßig in den Nahtod treiben. Nach wie vor schauen wir auch regelmäßig suizidgefährdet gen Himmel zu den Wolken, weil unser marodes Tribünendach vor langer Zeit entfernt, aber bis heute aus Rathaus-Geiz nicht ersetzt wurde. Bürger, schaut auf diese Stadt: Sie kennt kein Wir-Gefühl! Nur Stress.

Am Ende muss ich noch einmal aus dem Buch zitieren: „Resilienz: Der Wir-Faktor“, erschienen im Stuttgarter Schattauer­Verlag. Ein seit Jahrhunderten bewährtes Mittel gegen Statusstress, gegen die Angst um den Selbstwert, schreibt Georg Hasler, sei Humor. Humor aktiviere unser Hirnbelohnungssystem – „was das Stresssystem mächtig dämpft“.

So gesehen war die Nummer mit Stuttgart als stressfreister Stadt der Welt gar nicht so falsch: Diese Behauptung ist so blöd, dass man lachen könnte, hätte man danach nicht schwer gestresst die Lederhosen voll.





 

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