Bauers Depeschen


Dienstag, 05. September 2017, 1841. Depesche



 



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JOE BAUERS FLANEURSALON live am Dienstag, 17. Oktober, im Club Four 42 in Untertürkheim. 20 Uhr. Mit Rolf Miller, Loisach Marci, Anja Binder. Reservierungen: EASY TICKET



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Die aktuelle StN-Kolumne:

HOCH HINAUS

Mein Fahrrad, ein alter Esel ohne Herrenstange, hat zwei Vorzüge: Ich fahre damit aus der Stadt hinaus und deshalb erst recht in sie hinein. In die Stadt, die ich meine.

Meine neuer Tick, öfter zu strampeln, ist unterbewusst sicher von der Sehnsucht nach kleinen Fluchten beeinflusst. Auch wenn ich mir kurz vor der Bundestagswahl eine schlechte Zeit dafür ausgesucht habe. Noch im hinterletzten Winkel der Stadt grinsen dich die Plakatgesichter der Parteien an, verschandeln ganze Straßenzüge und selbst die kleinen Plätze zum Verweilen. Da fragt man sich: Stimmenfischer und Wahlfänger, Ranschmeißer und Papiertiger – seid ihr je in diesen Gegenden gewesen, in der eure Nasen an den Laternen hängen? Habt ihr irgendwann geredet mit den Menschen, die hier leben?

Vom Cannstatter Bahnhof kommend, geht die Fahrt Richtung Wangen, der Nase nach, ohne Ziel. Sicherheitshalber bin ich nicht allein am Start. Betreutes Radeln.

Wo und was ist Wangen? Ein wenig Neckarhafen, Basislager zur Eroberung der berühmten Wangener Höhe – und für mich viel Unbekanntes. Ohne Orientierungskrücken und ähnliche Stützräder bin ich aufgebrochen. Seit Langem schon will ich mir das Buch „Wangen für Neugierige“ des heimischen Chronisten Martin Dolde besorgen, habe es aber zwischendurch vergessen.

Unterwegs zwei Stopps. Der erste im Systembauten-Camp für 300 Flüchtlinge an der Cannstatter Mercedesstraße. Kurzer Plausch mit zwei Jungs aus Togo. Sie haben schon einen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz gefunden, sprechen erstaunlich gut Deutsch – und fürchten sich vor den geplanten städtischen Wuchermieten von 31 Euro pro Quadratmeter in ihren Familienunter­künften. Was für ein Irrsinn.

Der zweite Halt ist leicht sentimental angehaucht: An der Ulmer Straße, Viehwasen, besichtige ich mal wieder das an diesem Sonntag in der Ferienzeit nur zufällig geöffnete Kulturhaus Arena – vormals das Theaterhaus in Wangen, der Ort, wo alles anfing. 1985. Die Raumaufteilung wie früher, das Ganze frisch hergerichtet. Im Programm internationale Shows und allerlei Privatfeiern. Unter der Woche Mittagstisch für sechs Euro.

Weiter nach Wangen zum Marktplatz, mir nur bekannt aufgrund der gleichnamigen Haltestelle der Straßenbahnlinie 9 nach Hedelfingen. Und schon sind wir beim Eingemachten: Wangen, 9000 Einwohner, ist nach meinen Vorurteilen ein riesiges Industriegebiet mit dem altehrwürdigen Liveclub Longhorn Kulturaustausch (LKA) und seinen toten Gleisen vor der Haustür. Irgendwo viele, von der Schließung bedrohte Übungskeller für Bands – und eine Fliegerbombe, die neulich unter spektakulären Umständen entschärft werden musste. Was sagen uns diese Kenntnisse? Ich bin doof, muss noch viel lernen.

Weiter im Schritttempo, den Esel manchmal am Zügel, durch das Marktplatzviertel mit seinen alten, teils malerischen Häusern. Wir sehen Fachwerk, aber auch die Zeichen des Verfalls – sie erzählen uns, dass diese Ecke mal sehr schön gewesen sein muss. Noch immer etliche Kneipen, nur der Marktplatzbrunnen an der Zinkbrunnenstraße ist trockengelegt. In reicheren Quartieren fließt das Wasser leichter.

Und wieder etwas für mich Typisches: In meiner vorherigen Kolumne habe ich zum einen von einer neuen Gaststätte namens Bären an der Ecke Rotebühl-/Paulinenstraße berichtet, zum anderen von Casanovas Herberge, dem ehemaligen Gasthof Bären am Marktplatz. In Wangen, zwischen Ravensburger und Biberacher Straße, entdeckte ich eine griechische Kneipe, sie heißt Bären. Meister Petz lebt.

Und noch ein Zufallserlebnis beim Radeln: das Tor beim Wangener Jugendhaus an der Eybacher Straße, direkt vor der lärmenden B 10. Ein verblüffendes, exotisches Bauwerk. Erst unlängst hat mir Roland Ostertag, der 85 Jahre alte Architekt und unermüdliche Stadtaktivist, von diesem mit wenig Geld erschaffenen Hochkaräter erzählt. Noch am selben Tag wollte ich hin, blieb aber irgendwo hängen.

1986 arbeiten junge Menschen, darunter tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka, bei der Errichtung des Jugendhauses mit. Heraus kommt ein sehenswerter Holzbau. Die Architekten sind Wolfgang Zaumseil und seine Frau Friederike Pawlik. Um den Laden besser zu präsentieren, entsteht die Idee für ein Tor. Ein junger Kfz-Schlosser namens Ivan Milanovic setzt sich unter vielen Vorschlägen mit seiner Skizze durch: zwei Türme samt Bogen mit verschiedenen kulturellen, vorwiegend orientalischen Einflüssen. Die jungen Leute bauen sich ihr eigenes Ding. Ein Traum. Beteiligt sind unter anderem 30 Flüchtlinge aus Ghana, Nigeria, aus dem Irak und Iran, alle in einem benachbarten Asylbewerberheim zu Hause. Stuttgarter Begegnungen, urbanes Miteinander. Vor 31 Jahren.

Die Wangener Torbauer haben inzwischen viele Preise erhalten. Ich empfehle, sich ihre kleine Kultstätte neben Jugendhaus und Bolzplatz anzuschauen. Die Türme stehen als Zeichen der Menschlichkeit und erzählen uns etwas von den Rändern der Stadt. Obwohl der Kessel extrem eingegrenzt und jeder Stadtteil ohne Auto sehr schnell erreichbar ist, richtet sich der Zukunftsblick unserer Großtöner immer nur aufs Zentrum. Grotesk, in dieser Enge die Welt stets nur vom Schloss- bis zum Marienplatz zu betrachten.

Und dann geht es wieder mal hinauf zu den Hügeln. Das erste Stück noch auf der Straße strampelnd, steigen wir bald ab, um eine steile und schmale Treppe am Friedhof entlang zum Wangener Waldheim hochzustapfen. Was soll’s. Kann der Esel den Reiter nicht mehr schleppen, schleppt der Reiter den Esel. Kaum erwähnenswert, dass uns auf dieser Strecke ein habhafter Regenschauer überfällt.

Oben im traditionsreichen Waldheim, seit drei Jahren unter der Regie von Anne „Dolly“ und Micha Schemberger, fängt ein neues Leben an. Das Essen ist gut wie die Aussicht. Die Wangener Höhe mit ihren Lokalen wie Waldheim, Friedrichsruh oder Neckarblick ist Grund genug, aus der Stadtmitte auszubrechen und das engstirnige Zentrumsgedöns von oben zu belächeln. Und um zurückzukehren, nach Wangen am linken Ufer des Neckars.



 

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