Bauers Depeschen


Freitag, 18. August 2017, 1831. Depesche



 





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Die aktuelle StN-Kolumne:



SÜSSER TRAUM

Von der Rotenwaldstraße bog ich ab zum Leipziger Platz, einem bescheidenen Park am Ende der Bismarckstraße im Westen. Auf der Webseite der Stadt las ich später über dieses Gelände: „Das Halbrund wird durch eine Anzahl Linden unter­strichen, welche die Rotenwaldstraße säumen und gleichzeitig etwas von dem Staub auf­nehmen, der durch den starken Verkehr zum Westbahnhof und zum Birkenkopf aufwirbelt.“

Anscheinend ist die Linde heute eine Art Giftstaubsauger – und nicht mehr, wie ich immer gedacht habe, ein romantisches Ideal: „Am Brunnen vor dem Tore / Da steht ein ­Lindenbaum / Ich träumt’ in seinem ­Schatten / So manchen süßen Traum.“

Zahlreiche Brunnen sind zurzeit trocken, weil die Stadt und die EnBW über die Wasserkosten streiten. Vermutlich wird es diesen Konflikt eines Tages nicht mehr geben, weil uns ein Konzern wie Nestlé zum Wohl der freien Marktwirtschaft unser Wasser abgegraben hat, um es uns anschließend zu verscherbeln. Man kann alles kaufen und verkaufen, auch demokratisch gewählte Regierungen: „Jetzt wieder verfügbar: Wirtschaftspolitik“, heißt es auf einem Wahlplakat der FDP. Auf dem Poster ist das Vorabendseriengesicht des Parteichefs abgebildet. Sein Name lautet, der Baum kann nichts dafür, Lindner, und vermutlich gibt’s ihn gratis obendrauf, wenn irgendein Investor die verfügbare Wirtschaftspolitik in seinen Warenkorb klickt.

Als ich unter meinem Lindenbaum vor mich hin träumte, fiel mir ein, dass auf dem Leipziger Platz das „Sport für alle“-Programm zusammengestrichen wurde: Die Stadt, heißt es, habe kein Personal und kein Geld mehr fürs Rasenmähen. Womöglich kosten die gründlichen Verschönerungsarbeiten im Schlossgarten neben der Hauptbahnhofruine doch etwas mehr als gedacht. Diese Tatsache aber kann und darf nichts damit zu tun haben, wenn einsturzgefährdete Decken in Schulhäusern nicht mehr renoviert werden. Es gibt, hat mir mein Gemeinschaftskundelehrer beigebracht, in einer staatlichen Gemeinschaft seit je verschiedene „Töpfe“ für verschiedene Menschen unterschiedlicher Preiskategorien, früher auch Klassen genannt. Bei der politischen Zuordnung dieser Menschen muss jedem demokratischen Staatsbürger klar sein: Anständige Untertanen schauen nicht in fremde Töpfe. Falls doch, gibt’s auf die Löffel.

Stuttgart ist eine merkwürdige Gemeinde: An jeder Ecke stolpern wir gegen die Zäune obszöner Baustellen, als müsse die Stadt nach den Bombenangriffen im Krieg und den architektonischen Ersatzhandlungen in der Folgezeit ein weiteres Mal nachhaltig verschandelt werden. Fürs Trinkwasser im Brunnen, fürs Mähen einer Wiese oder gar für ein neues Dach über der Stehtribüne auf dem Fußballplatz der Stuttgarter Kickers ist dagegen keine Kohle da. Wir lernen daraus: Die Liebe der herrschenden Politik und Verwaltung zu den kleinen Lebensnischen ihrer boomenden Weltstadt ist gewaltig.

Da passt es, wenn die Stadt arbeitenden Flüchtlingen neuerdings mehr als einunddreißig (31) Euro pro Quadratmeter für ihre Unterkünfte abknöpfen will – mehr, als sie verdienen können. Der Sozialbürgermeister, grün wie das Gras meines Dreckschluckerparks, hat neulich vor einer Fernsehkamera verlautbart: Diese Wucherpreise seien ein Anreiz für die Migranten, möglichst schnell umzuziehen. Man glaube gar nicht, sagte er weiter, wie viele Geflüchtete zurzeit privat eine Wohnung fänden.

Diese Unverfrorenheit mitten in der Ära explodierender Mieten und wachsender Wohnungsnot dient ganz nebenbei der Propaganda aus der rechten und rassis­tischen Ecke: Schaut her, können sie wieder schreien, Flüchtlinge kriegen Wohnungen – wir Deutschländer nicht.

Dennoch ist noch nicht alles schöne Leben hinüber an den trockenen Brunnen zwischen den Schatten, die die Toren der Parteien werfen. Als sich am Nachmittag der Himmel verdunkelte und ein Gewittersturm aufzuziehen schien, begann ich zu singen: „Die kalten Winde bliesen / Mir grad ins Angesicht / Der Hut flog mir vom Kopfe / Ich wendete mich nicht.“ Und um vollends der Untergangsmelancholie anheimzufallen, stimmte ich beim Blick auf die tanzenden Bäume noch ein Lied von Udo, äh, Lindenberg an: „Gegen die Strömung, gegen den Wind . . .“ Den Mund noch offen, sah ich am Rand des Leipziger Platzes ein junges Pärchen in einer Hängematte schaukeln. Mann und Frau mit Wind im Haar und Laptop auf den Knien.

Diese digital unterstützte Entspannung unter freiem Himmel, auch Chillen genannt, begegnete mir in dieser Form zum ersten Mal. Womöglich feiert die Hängematte gerade noch rechtzeitig vor dem kollektiven Burn-out im Konsumwahn der Stadt ihr Comeback. Am besten, wir spannen sie zwischen zwei Parkuhren, damit wir nicht weiterhin den armen Lindenbäumen die ganze Sauerei aufbürden müssen.

Die Linde an sich hatte es bei uns ohnehin nie leicht: Ausgerechnet in Birkach wurde 1945 in größter Hektik eine Ecke auf den Namen „Bei der Linde“ getauft – zuvor hatte dieser Ort, etwas knorriger, „Adolf-Hitler-Platz“ geheißen.

Damit will ich kurz vor der Bundestagswahl darauf hinweisen, in welche Schwierigkeiten wir nicht nur im schönen Birkach geraten können, wenn wir die falsche Partei wählen. Womit ich nicht gesagt habe, welche die richtige ist. Das darf ich kleiner Lindwurm nicht, weil ich sonst als parteiisch gelte – was auf einen neutralen Stammgast im unüberdachten B-Block der Kickers in keiner Hinsicht zutrifft: Noch immer kann ich einen Linksaußen von einem Rechtsaußen unterscheiden. Nur vor dem Tore, da platzt uns so mancher süße Traum.



 

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