Bauers Depeschen


Dienstag, 16. Mai 2017, 1792. Depesche

 

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Die aktuelle StN-Kolumne:



DER BERG RUFT

Stuttgart ist ein Dorf. Zugegeben größer als, sagen wir, Genkingen, aber nicht weniger intim. Mit einer Einkaufstüte voller Äpfel und Tomaten gehe ich Richtung Heimat die Schwabstraße entlang, als mich ein langer Kerl mit Schiebermütze anspricht: „Gut, dass ich dich treffe, ich bin dein Nachbar und muss dir was erzählen.“ Er habe einen Film gedreht, in Genkingen auf der Schwäbischen Alb. „Ach, du Scheiße“, sage ich, „dann bist du der Typ, der Schiffe von Feuerwehrmännern einen Skihang hinaufziehen lässt.“

Ein Freund vom Fernsehen hatte mir von dieser Sache zuvor in der Kneipe erzählt. Leider bekam ich nicht mit, dass hinter diesem Irrsinn ein Mensch aus dem Stuttgarter Westen steckt. Zum Glück aber kommen in einer kleinen Gemeinde die Dinge immer irgendwie zusammen.

Vom 28. bis zum 30. Juni findet im Kino Metropol unter der Leitung von Goggo Gensch erstmals das vom SWR ins Leben gerufene Festival um den Deutschen Dokumentarfilmpreis statt. Aus 113 Einsendungen hat die Jury zwölf Produktionen in die engere Auswahl genommen, darunter „Genkingen – ein schwäbisches Volksmärchen“, gedreht nach einer Idee des langen Kerls mit der Schiebermütze.

Er heißt Erol Papic, ist 42 Jahre alt und arbeitet als Requisiteur am Staatsschauspiel. Einer seiner besten Freunde, Valentin Kemmner, studiert an der Filmakademie Ludwigsburg. Beide führen Regie in einem Heimatfilm, der sich als – keineswegs lustig gemeinte – Verbeugung vor Werner Herzogs „Fitzcarraldo“ mit Klaus Kinski versteht. Das legendäre Drama von 1982 schildert die Geschichte des besessenen Caruso-Verehrers Fitzcarraldo, der einen 150 Tonnen schweren Dampfer mit Kautschuk zur Finanzierung eines Opernbaus im Amazonas-Dschungel über einen Berg zwischen zwei Flussläufen schleppen lässt. Wie wahnwitzig sich die Dreharbeiten für den Regisseur und sein Team gestaltet hatten, dokumentierte Herzog 1999 in seinem Film „Mein liebster Feind“, der großartigen Hommage an den genialen Schauspieler und Berserker Klaus Kinski.

Nach unserer Zufallskollision auf der Straße treffe ich mich mit Erol im Café Stöckle beim Hölderlinplatz, einem guten Ort für die Ausleuchtung der Heimat. Erol spricht astreines Schwäbisch und lebt selbst mit einer Art Obsession: Er ist ein Kinofreak, liebt klassische Stummfilme und verehrt Werner Herzog. Vor ein paar Jahren las er zum zweiten Mal dessen 1978 erschienenes Tagebuch „Vom Gehen im Eis“, die betörend-poetischen Notizen seiner im November 1974 gestarteten Wanderung von München nach Paris. Diese strapaziöse „Fußreise“ (so hätte Mark Twain gesagt) unternimmt er mutterseelenallein, um in Paris die schwer kranke Filmhistorikerin Lotte Eisner zu besuchen. Sollte er sein Ziel erreichen, glaubt er fest, werde sie überleben (Lotte Eisner starb 1983 im Alter von 87 Jahren). Auf seinem Weg in Frankreichs Hauptstadt überquert er die schneebedeckte Schwäbische Alb, erwähnt später in seinem 111 Seiten dünnen Buch Zwiefalten und Geisingen und bemerkt im selben Absatz auf Seite 34: „In Genkingen schlagen seit Jahren die Türen im Wind.“

Dieser Satz lässt Erol Papic, Sohn mazedonischer Eltern, nicht mehr los: Er will die tiefere Bedeutung dieses Bilds mit den schlagenden Türen herausfinden und damit das Geheimnis Genkingen an sich lüften. Was ist da los, in diesem 2200 Seelen kleinen Ortsteil von Sonnenbühl, einer Gemeinde südlich von Reutlingen? Das Forschungsprojekt „Genkingen“ nimmt Fahrt auf, auch weil Erols Freund Valentin Kemmner seine Abschlussarbeit für die Filmakademie im Auge hat und die Branche schon ganz gut kennt. Als Geldgeber steigt Servus-TV mit ins Boot; der österreichische Privatsender aus dem Red-Bull-Imperium ist gerade auf der Suche nach Heimatfilmen und lässt dem Team alle Freiheiten. Mit 45 000 Euro wird die Produktion (geleitet von Erols Kollegin Michelle Jarosch) so solide finanziert, dass die Mitwirkenden anständig bezahlt werden können.

Die beiden Regisseure haben nicht vor, ein Spektakel über den Kraftakt am 800 Meter langen Skihang zu drehen. Behutsam, mit Gespür für die Landluft und Stimmungen im Dorf, nähern sie sich den Genkingern und erarbeiten eine feine, 60 Minuten lange Milieustudie. Den Leuten im Dorf begegnen sie mit Respekt, halten berührende Momente fest – aber auch lustige Szenen. Etwa wenn die Feuerwehrmänner über ihre Beteiligung an der folkloristischen „Fitzcarraldo“-Version abstimmen: Einer hebt erst zaghaft die Hand, nachdem er sich in der Truppe misstrauisch umgeschaut und volle Zustimmung gesehen hat.

Keine Frage, die Menschen im Dorf halten die Aktion für „Lohkäs“, für Schwachsinn, zumal sie in der Kargheit ihres Landstrichs „keinen Ertrag“ bringen kann. Doch nach und nach lassen sie sich von Erols Metapher überzeugen. Jeder, sagt er, habe bei uns „sein Päckle zu tragen“. Irgendwann im Leben, das ist seine Botschaft, musst auch du ein Schiff über den Berg ziehen – wenn auch nicht unbedingt ein 2500 Euro billiges, 1,5 Tonnen schweres Boot, erstanden im Hochwassergebiet von Dessau, Sachsen-Anhalt. Erol schwärmt von dem Gemeinschaftserlebnis auf der Alb, der absolut irren, aber durch und durch solidarischen Skihangeroberung mit einem von Menschen an Seilen gezogenen Boot namens „Herzog“. Den klammheimlichen Plan der Feuerwehr, Seilwinden einzusetzen, hat er verhindert.

Den Genkinger Skilift betreibt Volker Schanz in Familientradition, einst hat er in Stuttgart Luft- und Raumfahrttechnik studiert. Mit höherem Sinn für die keltische Vergangenheit seines Dorfs und den kultischen Zauber der Zielwiese am Ende des Hangs stimmt er die Genkinger auf diesen „positiven Ort“ ein. Als das absurde Unternehmen am 7. Mai 2016 bei bestem Wetter steigt, säumen tausend Genkinger die Piste. Oben am Ziel steigt – ohne einen Tropfen Brause des Sponsors – ein fröhliches Volksfest. Die Leute feiern ihren Sieg über die Zwänge des Alltags. Der Genkinger Posaunenchor spielt den Soundtrack des Triumphs.



 

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