Bauers Depeschen


Dienstag, 09. Mai 2017, 1789. Depesche



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Die aktuelle StN-Kolumne:



NECKARBLICK

Die Globalisierung breitet sich unaufhaltsam aus, nirgendwo kann man ihr entfliehen. Es war einer der wenigen schönen Tage in diesem Mai, als ich mit der Linie 14 aus dem Zentrum hinausfuhr zur Haltestelle Wagrainäcker – nur um zu schauen, ob der Neckar noch fließt.

Gewohnheitsmäßig vorbei am Max-Eyth-See, wo mir nur Gänse auf Familienausflug begegnen. Weiter zum erhebend schön gestalteten May-Eyth-Steg über den Fluss und dann links zum Keefertal. Die Wirtsleute René und Marion Zachmann haben ihre Gaststätte Keefertal im vergangenen November geschlossen, und bis heute ist nicht bekannt, wie es mit diesem Haus am Ufer weitergeht. Ich vermisse diese Kneipe mit ihrer bei uns einzigartigen Nähe zum Wasser; ihren Namen hat sie vom Fischer Emil Keefer, der an diesem Ort nach dem Zweiten Weltkrieg eine Holzhütte für die Schützengesellschaft Tell erbaute.

In der Keefertal-Nachbarschaft hat man das Vereinslokal des Männergesangvereins Frohsinn Eintracht inzwischen auf den global kompatiblen Namen „Riverhouse by MGV“ getauft. Entsprechend weltläufig empfiehlt der Verein auf seinem Transparent am Maschendrahtzaun „Kaffee und Kuchen To Go“. Diese Zeile erscheint mir gut geeignet für einen großen Sehnsuchtssong im Männerchor: Go, go, Kaffee, go. Das Riverhouse ist sonn- und feiertags geöffnet. Unter der Woche müssen wir mit Proviant losziehen, weil der Neckar im Bewusstsein dieser Stadt weiter weg ist als der Mond.

Als ich begriffen hatte, dass für mich am Neckar zurzeit kein großer Fang zu machen ist, stiefelte ich irgendwann himmelwärts. Es ist ein trüber, feuchter Tag, der mich hinauftreibt in die Waldebene Ost, von wo aus man gelassen die ganze Welt von oben herab betrachten kann. Mein Ziel ist die Ausflugsgaststätte Neckarblick, die ich seit vielen Jahren nicht mehr besucht habe. Das Lokal macht seinem Namen alle Ehre: Trotz miesen Wetters ist der Blick frei auf unseren Fluss. Man schaut hinunter auf Wangen, auf Untertürkheim und sogar auf die Kulissen des Hafens. Im kommenden Jahr feiert der Stuttgarter Neckarhafen sein 60-jähriges Bestehen, und bis heute glauben viele an einen Scherz, wenn man von ihm erzählt.

Bevor ich aber bald wieder zum Wasser gehen werde, steige ich erst mal in den Bus. Seit kurzem ist es möglich, von der U-Bahnhaltestelle Geroksruhe aus die Waldebene Ost mit einem kleinen Mercedes-Transporter anzusteuern. Der Bus für etwa 20 Passagiere fährt im Auftrag der SSB und erinnert wegen seiner schwarzen Farbe auf den ersten Blick an einen Leichenwagen. Der Fahrer, ein außerordentlich freundlicher Mann, trägt würdevoll Krawatte. Nach kurzer Fahrt sind es zu Fuß nur noch wenige Minuten zum Neckarblick. Unterwegs komme ich an einigen Sportstätten und am Polizeifunkturm vorbei und erreiche schließlich die Schillerlinde. Dieser Baum auf einer Aussichtsplattform hat eine beinahe so wilde Biografie wie sein revolutionärer, zu Abstürzen neigender Namensgeber. Der Stuttgarter Verschönerungsverein hat die Ungarische Silberlinde 1905 zu Schillers 100. Todestag gepflanzt. Anscheinend aber hatte der liebe Gott noch eine Rechnung mit dem unzüchtigen Dichter offen: 1965 traf ein Blitz den Stamm der Linde und riss ihn auf. Weil danach üble Pilze Schillers Naturdenkmal heimsuchten, mussten 1978 die Baumchirurgen des Gartenbauamts ran. Wie auch bei Menschen üblich, konnten die maroden Körperteile mit reichlich Metall repariert werden. Eine Tafel an der Anlage verkündet hoffnungsvoll: „Bei glücklichen Umständen kann die Schillerlinde nach dieser Operation durchaus noch ein hohes Alter erreichen.“

Der Dichter ist in den Stuttgarter Wäldern gut präsent: Es gibt ja auch die berühmte Schillereiche am Bopserhang, wo der Meister einst seinen vom Sturm und Drang gezeichneten Anhängern aus seinem Drama „Die Räuber“ vorgelesen haben soll. Diese Runde hatte eher selten „Kaffee und Kuchen To Go“ im Angebot. Superstar Friedrich und seine Fans galten als Zecher, gegen die selbst spätere Profikollegen wie Ernest Hemingway oder Malcolm Lowry wie Amateure ausgesehen hätten.

Von den Räubern und Schwärmern zurück zum Neckarblick. Das Lokal ist seit 1953 in Familienbesitz. Seit fünf Jahren leiten es Roger Massek und seine Frau Claudia Fahrian. Leider ist am 30. April nach 30 Jahren Arbeit und schwerer Krankheit ihr Koch Matthias „Matze“ Kuhlmann mit nur 53 Jahren gestorben.

Die Gaststätte mit ihrem großen Garten ist selbst an einem trüben Tag ein lohnendes Ziel und die Aussicht auch durch die geschlossenen Fenster des Gastraums für unsereins aufschlussreich: Meinem gestörten Orientierungssinn zum Trotz kann ich endlich sehen, wie unten am Neckar die Dinge stehen. Am Hang vor der Tür des Lokal grasen Schafe, und weil auch das Essen gut schmeckt, stärkt sich auf den Hügeln wieder mal die Erkenntnis: Diese Stadt liegt weit schöner gebettet, als sie in ihrem Innern aussieht. Politiker und Stadtplaner richten weit schlimmere Schäden als alle Gewitter zusammen. Und so wünsche ich mir klammheimlich, der Blitz würde mal an der richtigen Stelle einschlagen.

Selbstverständlich kann der Spaziergänger bei halbwegs guter Kondition die Tour vom Neckar zum Neckarblick auch ohne Unterbrechung zu Fuß bewältigen: Start in Wangen und dann den Hang hinauf. So oder so muss ich mir endlich einmal dieses Wangen vornehmen. Jedes Mal, wenn ich auf der Durchfahrt aus dem Bahnfenster schaue, verblüfft mich die bizarre Restkulisse einer womöglich dramatischen Vergangenheit an der Haltestelle Marktplatz. Überhaupt habe ich noch einige Wege vor mir, sofern ich trotz einiger Einschläge ein Alter wie die Schillerlinde erreichen sollte. Darüber muss ich nachdenken, oben im Gasthaus Neckarblick.

 

 

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