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Donnerstag, 20. April 2017, 1780. Depesche

 

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Die aktuelle StN-Kolumne:



MILIEUSCHUTZ!

Stuttgart sei im „Aufbruch“, hört man aus dem Vereinsheim einiger halbwegs prominenter Zeitgenossen. Wer regelmäßig zu Fuß durch die Stadt geht, kann das nur bestätigen: kaum eine Ecke, an der nicht der Asphalt aufgerissen wird und Baustellen den Fluss des Lebens stören. Für welche Geschäfte auch immer.

Wenn die Stadt von den Herren der globalen Schöpfung neu entdeckt wird, geht es stets um das Zentrum im Herzen des Giftstaub-Hurrikans. Wer Lust auf die Stadt hat und wirklich ihren Puls fühlen will, fährt besser mit der Straßenbahn hinaus in die Reviere, die uns viel erzählen, auch wenn wir ihnen nur selten zuhören.

Die sich selbst aufbrechende Stadt würde ihren Bewohnern einen großen Gefallen tun, könnte sie die öffentliche Aufmerksamkeit auch mal auf ihre entlegenen Bezirke abseits der realen Shopping- und erwünschten Kulturmeilen lenken.

Es ist April und alles durcheinander, die Welt sowieso. Warum rufen wir nicht zum schärferen Blick auf die Dinge den Mai zum Monat von Untertürkheim aus? Und den Juni zum Monat von Heslach? Und den Juli zum Monat von Feuerbach?

Insgeheim hoffe ich, dass ich dann verschont bliebe von einem Regensturm, wie ich ihn am Sonntag in Feuerbach nur knapp überlebt habe. Da war ich, am Tag von Erdogans Referendum, auf dem Weg ins Türkenquartier an der Mauserstraße.

Pudelnass habe ich im Dedemoglu Baklava Kebap Salonu Linsensuppe und Lamm verzehrt, ehe ich mir ein paar Meter weiter einen Mokka mit Schokotörtchen im Osmanli Tulumbacisi gönnte: einem riesigen, erst vor fünf Monaten eröffneten Restaurant auf zwei Ebenen samt Shisha-Lounge auf einem weiteren Stockwerk. Nein, meine Damen und Herren, ich wollte an diesem Tag nicht die Wahlen in der Türkei beeinflussen – nur mal wieder riechen und schmecken, was es alles gibt in unserer Stadt. Im Übrigen bin ich nicht nachtragend und angesichts der Propaganda mit Wahlanalysen ohnehin äußerst vorsichtig – auch wenn ich nach meiner kalten Dusche bei den Türken beschlossen habe, meinen Kurs radikal zu ändern.

Anderntags nehme ich die Straßenbahn nach Untertürkheim (die ­S-Bahn-Strecke ist mir zu langweilig). Der Untertürkheimer Bahnhof, das weiß jeder UT-Tourist, ist ein Gedicht. Mit nur wenig Kulissenschieberei könnte man diesen Ort in einen Westernschauplatz verwandeln. Das Drehbuch dafür müsste – und sicher nicht zugunsten eines blöden Wortspiels – in der Bahnhofskneipe Drehscheibe geschrieben werden. In dieser Bar kostet ein halber Liter Bier zweizehn und ein Obstler einssiebzig. An den Wänden hängen nicht nur VfB-Embleme und ein Bild mit der Botschaft „Life‘s a Bitch“ (das Leben ist eine Schlampe). Einen Ehrenplatz hat auch ein Schal des FC Augsburg. In diesem Heimathafen schlägt eindeutig das Herz für Verlierer. Ich beantrage deshalb – nach Pariser Vorbild – sofortigen Milieuschutz: Solche Institutionen und Denkmäler des geerdeten Lebens müssen erhalten und entsprechende Schritte mithilfe dringend notwendiger Stadtteil-Hommagen organisiert werden. Das wäre ein Stuttgart-Aufbruch in die Realität.

Den Bahnhofsvorplatz hat man erst im Jahr 2000 dem Maler Leonhard Schmidt (1892 bis 1978) gewidmet, einem maßgeblichen Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Die Nazis vernichteten einst etliche seiner Werke, weitere fielen Bombenangriffen zum Opfer. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte der Künstler im Haus des Wengerters Julius Scheef – Tochter Lore Scheef wurde seine Meisterschülerin. Auf dem Leonhard-Schmidt-Platz erinnert der Storchenbrunnen an die Plage mit diesen Vögeln am Neckar. Ob es damals einen Geburtenüberschuss im Flecken gab, weiß ich nicht.

Jetzt habe ich den Bahnhof noch nicht mal richtig verlassen und noch einige Meter bis zur Staffel zu den Weinbergen über der Strümpfelbacher Straße zu bewältigen. Dennoch haben mir allein schon die toten Störche genug für eine ganze Kolumne erzählt. Wo soll ich denn in diesem Untertürkheim überhaupt anfangen und aufhören? An einem Weltort, wo ein gewisser Daimler bis heute eine Rolle spielt. Wo einst etliche Motorradfabriken standen und ein Zweirad mit dem unübertrefflichen Namen Strolch produziert wurde. Wo der Arbeiterführer Willi Bleicher von den Nazis verhaftet wurde.

Das alles interessiere doch heute kein Schwein mehr, könnte man mir entgegnen. Aber es gibt auch ein Untertürkheim der Gegenwart: Oben im Weinberg genieße ich die wunderbare Aussicht auf einen Ort, von dem ich nicht weiß, wie es seinen Bewohnern geht in diesen Tagen. Mein Gott, was stehen da unten für uralte bewohnte Häuser, einige mit Fachwerk aus dem 16. Jahrhundert. Die müsste man mal fragen, was los ist im Dorf nach all den Jahren, mitten im Erdaufbruch für Stuttgart 21 – mit all dem Tunnelbaulärm und dem Dreck. Habe ich nicht unlängst gelesen, die Deutsche Bahn biete den darunter leidenden Anwohnern den vorübergehenden Umzug ins Hotel an? Inzwischen denke ich darüber nach, selbst in eine Untertürkheimer Herberge zu ziehen, um wenigstens ansatzweise mitzukriegen, was da läuft in einer oft verdrängten und geografisch doch so nahen Nische der Stadt.

In der Augsburger Straße komme ich an einem Gebäude mit einer Gedenktafel ­vorbei: An dieser Stelle stand bis 1905 das Gasthaus zum Hirsch, bürgerlicher Versammlungsraum und beliebtes Speiserestaurant bei den „Herrschaften aus Stuttgart“. Diese Herrschaften, vornehmlich jene aus dem Rathaus und anderen Museen, bitte ich am Ende meiner Tour noch einmal herzlich, Stadtteil-Kapitel aufzuschlagen, um die spannenden und oft noch geheimnisvolleren Ecken als Untertürkheim ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Das wäre ein Aufbruch in ein städtisches Denken einer kleinen Stadt, deren Wichtigtuer selten über den Schlossplatz hinausschauen und den Neckar nie riechen.



 

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