Bauers Depeschen


Dienstag, 04. April 2017, 1769. Depesche



 



MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:



WIE FLIEGEN UND HÜHNER

Am Wochenende habe ich kurz die Stadt gewechselt, um die Stuttgarter Größenordnungen in meinem Provinzlerhirn zurechtzurücken. Nach Hamburg und München im ersten Quartal habe ich zum Aprilanfang wieder mal Frankfurt gewählt: Mit dem ICE von Stuttgart in die Main­Metropole brauche ich ja kaum länger als mit Bahn und Bus von Zuffenhausen nach Sillenbuch. Mein kurzer Ausflug diente ausgiebigen Fußmärschen durch die Stadt, wobei ich am Ende nicht nur im Wirtshaus bei grüner Soße, sondern in Gedanken beim Fahrrad landete. So kann‘s gehen beim Herumgehen.

Manchmal ist es schwer auszuhalten in unserem Kessel. Eben erst hat ein neuer Kulturprominenz-Verein namens Aufbruch Stuttgart bei der Politprominenz im Rathaus vorgesprochen, da verlautbart der Vereinsvorsitzende und ehemalige Fernsehjournalist Wieland Backes, sein Klub wolle Stuttgart zum „Vorreiter für die moderne Stadt“ machen – ich vermute, weltweit.

Was soll man noch sagen. Der Verein verbreitet seit Kurzem die jahrzehntealte, tausend und nicht nur eine Nacht diskutierte Idee, das von der Stadtautobahn tranchierte Terrain zwischen Staatstheatern und Staatsgalerie zu vereinen. Womöglich wäre es nebenbei ganz sinnvoll, endlich auch mal über den ebenfalls von der Stadtautobahn zerrissenen historischen Stadtkern nach­zudenken, etwa über eine wenigstens provisorische Brückenlösung zwischen der Leonhardsvorstadt und dem gegenüberliegenden Restzentrum. Als Vorreiter für die moderne Stadt aber hat man höhere Ziele – und redet auch nicht über die Alltagsproblemchen der weniger prominenten Zeitgenossen, etwa die Mietpreisexplosion, die Wohnungsnot und die Vertreibung nicht wohlhabender Menschen aus der Stadt.

Im Hauptquartier des totalen Stuttgart-21-Aufbruchs geht es immer um große Würfe. Mit diesem Think-big-Getue als Bückling vor den Investoren haben wir es, rein vorreitermäßig, zu Deutschlands Stau- und Staubhauptstadt gebracht. Und vor kaum einem Dutzend Jahren hätte man uns um ein Haar mit Großstadtsensationen wie einem „Trump-Tower“ und einem „Tivoli-Park“ beglückt. Da klingt es heute ziemlich komisch, wenn der grüne OB fordert: „Wir brauchen eine Rückeroberung der Stadt durch Fußgänger und Radfahrer.“

Ich ging zu Fuß durch Frankfurt, gelenkt von Herrn Geyer, einem alten Freund, passioniertem Spaziergänger und Radfahrer aus dem Stadtbezirk Bornheim. Wir zogen auf dem Hauptfriedhof unsere Hüte vor den Gräbern des Philosophen Schopenhauer und des Verlegers Unseld, dem früheren Arbeitgeber meines Stadtführers. Wir durchkreuzten unter anderem das Holzhausenviertel mit seinen fetten Villen, die schicken Quartiere im weiteren Nordend und schlenderten ergriffen am sommerlichen Mainufer entlang. Wie in allen größeren Städten achtete ich hoch konzentriert auf die überall liebevoll angelegten Radwege – Einrichtungen, die das Stuttgarter Landei kaum kennt und deshalb bei früheren Fehltritten in Berlin oder Hamburg fast gelyncht worden wäre.

Es gibt weiß Gott kein besseres Jahr als das laufende, um bei uns die Trommel für Fußgänger- und Fahrradwege zu rühren. Wie es der Teufel will, hat Herr Geyer gerade rechtzeitig für meinen Überfall das Buch „Vom Glück, Fahrrad zu fahren – Ein literarischer Rückenwind“ herausgegeben, eine Anthologie mit Texten von Walter Benjamin über Samuel Beckett bis zu Joachim Ringelnatz und Émile Zola (Marix-Verlag). Ich selbst bin kein großer Pedalritter, eher ein halbherziger Neckarufer-Strampler, und hätte wahrscheinlich ohne meinen unverzüglichen Buchkauf beim Frankfurter Hugendubel die größte Speichen-Sause aller Zeiten im eigenen Land verschlafen: Vor 200 Jahren, am 12. Juni 1817, startete Karl Freiherr von Drais die Jungfernfahrt mit seiner Laufmaschine von Mannheim aus in Richtung Schwetzingen. Obwohl Zeitungen in ganz Europa schon damals über die Radrevolution berichteten, hab ich bis heute davon wenig mitgekriegt. Wichtiger erschien mir, welche großen Verdienste Herr Drais aus dem schönen Karlsruhe als Demokrat hat. 1849 legte er in der Badischen Revolution seinen Adelstitel ab, um fortan ein anständiger Bürger zu sein. Gedankt hat man es ihm nicht: 1851 ist der rebellische, vom Staat verfolgte Forstbeamte und Erfinder verarmt gestorben. Kurioserweise nennt man heute unanständige Politiker Radfahrer, selbst wenn sich diese Treter und Buckler nur als Mitläufer im Mercedes fortbewegen.

Im Nachwort des Buchs zum Jubiläum der revolutionären Drais-Maschine schreibt Herr Geyer, das Fahrrad verkörpere „das Versprechen auf Freiheit und Glück“: „Wird im Auto die Persönlichkeit der Insassen versteckt und durch eine Blechkarosse ersetzt, tritt sie auf dem Fahrrad deutlich zu Tage. Radfahrer werden als Individuen wahrgenommen … Sie eignen sich Städte an, anstatt sie nur zu durchqueren, darin wesensverwandt dem Flaneur.“

Kaum saß ich, auf dem Weg von Frankfurt nach Hause, mit der neuen Fahrradlektüre im Zug, begann ich zu ahnen: Trotz der vielen qualmenden Mercedesreifen im Autokessel muss es früher auch bei uns Radler gegeben haben;  Autor der Eröffnungsgeschichte im Buch ist ein nicht unbekannter Herr aus Cannstatt: „Den passionierten Reiter erkennt man an den Beinen, die eine Ellipse bilden. Das Abzeichen des heldenhaften Radfahrers sind die blasenförmig verdickten Muskelpäckchen an den Waden. Wie alle Helden haben die Radfahrer Starallüren. Da es in Mitteleuropa wenig Tandems gibt, auf denen die Familie, in Reih und Glied hintereinander ausgerichtet, im Gleichtritt die Pedale bewegt, fahren unsere Radfahrer mit Vorliebe nebeneinander wie Fliegen oder Hühner und brechen plötzlich nach links über die Fahrbahn. Sie beweisen auch gern, dass man zum Radfahren keine Hände braucht.“

Geschrieben hat diese Zeilen Thaddäus Troll in seinem 1954 veröffentlichtem Buch „Kleiner Auto-Knigge“. In Zukunft werde ich mich kompromisslos mit den nach links brechenden Fliegen und Hühnern solidarisieren, auch wenn es kaum mehr zum Vorreiter im Radlager reichen dürfte.

> Joe Bauers Flaneursalon ist an diesem Donnerstag (20 Uhr) in der Friedenau in Ostheim. Musik machen das Roland Baisch Trio mit Frank Wekenmann und Flo Dohrmann und das afrikanische Duo Thabilé & Steve Bimamisa. Reservierungen: 07 11/ 2 62 69 24



 

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