Bauers Depeschen


Dienstag, 28. März 2017, 1764. Depesche



 

MUSIK ZUM TAG



Bald ist FLANEURSALON: am Donnerstag, 6. April, in der Friedenau. Mit der großartigen südafrikanischen Sängerin Thabilé und ihrem afrikanischen Gitarristen Steve Bimamsia, mit dem nicht minder charmanten Entertainer Roland Baisch aus Korntal/Germany und seinem Gitarristen Frank Wenkenmann. Es gibt noch Karten: 0711/2626924



Die aktuelle StN-Kolumne:



HELLO, PARLAMENT

Eine Woche hatte ich Ferien, es war kalt und nass – und dann schon Sommerzeit. In den meisten Ländern Europas hatte man an der Uhr gedreht, selbstverständlich nicht in England. England ist nicht richtig Europa. Früher war es Empire, heute ist es Brexit.

Seit vielen Jahren damit beschäftigt, im Lokalteil eine Kolumne mit dem Titel „In der Stadt“ zu füllen, weiß ich vermutlich zu wenig über dieses Europa, das zurzeit schwer in Mode zu kommen scheint. Dieser Trend müsste die Engländer eigentlich ärgern, denn schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren haben sie uns so viel neue Mode geliefert, bis auch noch die konservativsten Typen Europas mit langen Haaren herumgerannt sind; man denke an den schwarzen Rocker Mayer-Vorfelder aus Cannstatt­-Muckensturm.

Schlechten internationalen Gewissens bin ich in meiner Freizeit mit der Eisenbahn von Stuttgart aus endlich mal durch Europa gefahren und nach zwei Stunden kurz vor der Schweiz am Bodensee gelandet. Martin Walser hat in seinem Büchlein „Heimatlob“ vermerkt: „Der See ist ein Freund. Der Himmel glänzt vor Gunst.“ In meinem Fall war der Himmel zwar etwas trüb, mein Freund, der See, dagegen glänzte wie meine Augen. Es ist überall schön am Wasser, selbst wenn man vom Neckar kommt.

Genau genommen gehört der Bodensee weitgehend zu Baden-Württemberg, dessen Hauptstadt viel zum Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa beigetragen hat: Schon 1960, kurz vor der englischen Männerlanghaarmode, ließen unsere Hauptstadtpolitiker einen „Europaplatz“ zur „Förderung der europäischen Einheitsidee“ anlegen. Diesen Ort gibt es bis heute, zentral und weithin sichtbar im mondänen Stadtteil Fasanenhof gelegen.

1960 hatte Europa im Grunde nur sechs Mitglieder – die Engländer waren nicht dabei, dafür Luxemburg, wo es schon viele großzügige Banken gab. Der neulich gefeierte europäische Zusammenschluss vom 25. März 1957 hieß EWG und wurde bei uns erst einige Jahre später durch die gleichnamige Fernsehshow mit dem famosen Entertainer Hans-Joachim Kulenkampff bekannt. Das TV-Quiz „Einer wird gewinnen“ gab auch gleich die kapitalistische Strategie für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vor.

Trotzdem dauerte es noch einige Zeit, bis die deutschen Europäer auch noch Fußball-Europameister werden wollten, 1968 in Italien beim ersten größeren Turnier dieser Art. In der Qualifikation allerdings erwischten sie mit Jugoslawien und Albanien eine echte Todesgruppe – und schieden trotz Overath und Netzer am 17. Dezember 1967 durch ein Nullzunull in Albanien aus. In diesem Jahr feiern wir den 50. Jahrestag der legendären „Schmach von Tirana“.

1967 war der Fußballplatz von Tirana anscheinend so steinig wie heute der Weg zum vereinten Europa. Seit ein paar Wochen macht eine neue Bürgerbewegung namens „Pulse of Europe“ auf die Existenz unseres Kontinents aufmerksam: Am vergangenen Sonntag demonstrierte sie auch wieder in Stuttgart, erstmals vor dem Rathaus. Eine Sprecherin in blauem Kostüm rief, wem auch immer, „ein großes Hello für das Stuttgarter Parlament“ zu, danach war viel von „Friede und Freiheit“ die Rede.

Zweimal habe ich bisher eine „Pulse of Europe“-Kundgebung besucht, einmal in Konstanz mit Aussicht auf den schönen Bodensee, einmal in Stuttgart mit Blick auf unseren noch schöneren Marktplatz. Aufgefallen ist mir, dass jeweils mit viel Beifall die Hinweise der Redner gefeiert wurden, in Europa habe es nach 1945 keinen Krieg mehr gegeben. Ich bin kein Historiker, kann mich aber dunkel erinnern, wie ich mit einigen Freunden Anfang der Neunziger Medikamente nach Jugoslawien transportierte, weil die Balkankriege tobten. Allein die Zahl der Toten des Kriegs in Bosnien-Herzegowina (1992 bis 1995) wird auf 200 000 geschätzt; 2,4 Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen, viele Geflüchtete kamen in die Bundesrepublik, auch in unsere Stadt. In Kroatien, einst eines der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen, herrschte von 1991 bis 1995 Krieg. Die Balkankrise endete erst 1999. Niemand kann sagen, das Elend sei weit weg gewesen – es war vor unserer Haustür: Von Stuttgart nach Zagreb fliegt man kaum anderthalb Stunden.

Trotz aller historischer Blauäugigkeit unter blauen Fahnen scheint Europa neuerdings ein Thema in unserer Gesellschaft zu werden. Ich erinnere mich: Erst im Sommer 2016 stolperte ich ins Stuttgarter Europahaus in der Nadlerstraße und plauderte mit der Historikerin Stefanie Woite-Wehle über unser fehlendes Europa-Bewusstsein. Damals, mitten in der Brexit-Aufregung, lief gerade die Fußball-EM in Frankreich. In unserem städtebaulich beispielhaften Europaviertel hatte man den Platz vor dem Einkaufsklotz Milaneo in echtem Euro-Geist mit Fahnen geschmückt – ausschließlich in Schwarz-Gold-Rot. Zur Strafe flog das DFB-Team gegen Frankreich raus.

Die Historikerin im Europahaus sagte mir: Um ein neues Bewusstsein zu schaffen und die Geschichte besser zu verstehen, sollte man die Menschen auf direktem Weg, beispielsweise auf Spaziergängen, an die europäischen Einflüsse in ihrer Stadt heranführen: etwa an die Architektur und an die Lebensläufe verdienter einheimischer Europäer. Womöglich, denke ich, wäre diese Art Annäherung eine nützliche Ergänzung zu den neuen Friede-Freiheit-Freundschaft-Hoffnungen, die manchmal an Slogans von Reiseagenturen erinnern.

Ach ja, Reisen: Das Europahaus in der Nadlerstraße muss bekanntlich – wie benachbarte Gebäude und Geschäfte – einem Luxushotel weichen. Die internationale Immobilienpolitik unseres Hello-Parlaments im Rathaus kennt ja schon lange keine Grenzen mehr. Schon im kommenden April wird die Europahaus­-Belegschaft umziehen in die Lange Straße 4 A, Eingang Kronprinzstraße. Vielleicht wäre es gar nicht falsch, wenn aus diesem Haus künftig ein paar fundierte Sätze zu Europa sonntags auf dem Marktplatz ankämen.

 

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