Bauers Depeschen


Samstag, 18. März 2017, 1758. Depesche

ANMERKUNGEN

ZUM STUTTGARTER KABARETT-FESTIVAL

Am Freitagabend wurde im Theaterhaus das 25. Stuttgarter Kabarett-Festival eröffnet - eine gemeinsame Veranstaltung verschiedener Bühnen mit Unterstützung des SWR und der Stadt. Ich war erstaunt, wie man einen solchen Abend dermaßen unpolitisch präsentieren kann. Die Eröffnungsrede beschränkte sich auf eine humorlose Gruß- und Dankeswort-Arie im Vereinsmeierdeutsch - ohne einen einzigen ironischen oder kritischen Seitenhieb auf die Stadt und die Herrschenden. Auch kein Wort über das Kabarett an sich. Nicht einmal in der Anmoderation für den großartigen, radikalen Scharfsinn-Artisten Max Uthoff, einen der vier Künstler der Show, fiel ein Satz über die oppositionelle Kraft des Gegenwartkabaretts - durch die aufklärerische und analytische Rolle der Satiriker in der allgemeinen politischen Verunsicherung (laut Ansagerin "moderieren" Uthoff und Claus von Wagner "Die Anstalt"). Derartige politische Bewusstlosigkeit löst wohl die merkwürdige Unterhaltungsveranstalter-Haltung aus, sogenannte Kultursubventionen seien Geschenke der Regierenden - und nicht etwa Steuergelder, die uns zustehen.

 

MUSIK ZUM TAG



OSTHEIM RUFT

Kommt alle, so ihr das letzte Licht der Stadt im Osten vermutet, am Donnerstag, 6. April, zum Flaneursalon in die Friedenau. Dann wird es ein erregender Abend in einem der letzten Stuttgarter Wirtshaussäle - ganz in der Nähe des Gaskessels ... Reservierungen: 0711/2 62 69 24



Die aktuelle StN-Kolumne:



GEHEN UND GEHEN LASSEN

Die Menschen in den Straßen kommen ­anders daher in den ersten Frühlingstagen. Viele bewegen sich, als wollten sie gleich tanzen. Könnte man tun: Musikfetzen mischen sich in den Motorenlärm, seit viele Autofenster und Cabrio­-Verdecke wieder geöffnet sind.

Neulich ist mir beim Herumgehen mit etwas Verspätung eingefallen, dass es meine Kolumne seit zwanzig Jahren gibt. Ich habe ihr nicht gratuliert, und sie mir auch nicht. Die erste unter dem Titel „Joe Bauer in der Stadt“ ist im Februar 1997 erschienen. Damals habe ich meine Stiefel noch mit D-Mark bezahlt, Schuster war gerade OB geworden und ein damals großer Club namens SV Stuttgarter Kickers wieder in die zweite Liga aufgestiegen.

Vom Spazierengehen hatte ich damals wenig Ahnung. Nur den Verdacht, auch eine kleine Stadt könne halbwegs aufregend sein, wenn man ihr als Fußgänger auf den Pelz rückt. Mit dem richtigen Flanieren habe ich mich erst später beschäftigt und mir nie ­eingebildet, etwas leisten zu können wie die wahren Flaneure: Schriftsteller und Dichter.

Ein Zeitungsfritze bleibt ein Zeitungsfritze. Bestenfalls kann er hoffen, in den vergangenen zwanzig Jahren ein paar Leserinnen und Leser so lange gekitzelt zu haben, bis sie ihr Kehrwochenschild mal übersahen und sich in den Schmutz der Stadt trauten. Spazierengehen, hat der große Berliner Flaneur Franz Hessel geschrieben, „ist mehr als jedes andre ­Gehen zugleich ein Sichgehenlassen“.

Ich gehe an einem warmen Frühlingstag vom Bahnhof durch den Schlossgarten und gerate in einen Haufen von Stadttouristen: Herr Michael Kühner, mit seiner auch noch im Rentenalter beachtlichen Athletenfigur leicht als einschlägig bekannter Kriminalpolizist zu identifizieren, lotst die Leute an die Schauplätze legendärer Verbrechen. Einfach zu erraten, dass ihr Weg gerade zum Schicksalsbrunnen vor das Opernhaus führt: Dieses vom Bildhauer Karl Donndorf geschaffene Denkmal wurde 1914 der großen Sängerin Anna Sutter gewidmet. Weil sie nach einer kurzen Liebesaffäre genug von ihm hatte, erschoss sie der königlich-württembergische Hofkapellmeister Aloys Obrist 1910 mit seiner Pistole. Danach brachte er sich selbst um. Ich krieg noch mit, wie Her Kühner seine Leute mit großer Gestik fragt: Was war der erste Stuttgarter Amokläufer von Beruf? Lehrer war er, ein angesehener Bürger namens Ernst August Wagner: Am 4. September 1913 schlug er in Degerloch seine Frau und seine vier Kinder mit einem Knüppel tot. Dann fuhr er mit der Bahn nach Mühlhausen an der Enz, wo er früher als Lehrer gearbeitet hatte, zündete vier Häuser an und erschoss neun Menschen, als sie vor den Flammen flüchteten. Elf weitere verletzte er schwer. 1938 starb er in der Heilanstalt Winnenden.

Nicht mal beim Spazierengehen, nur so im Vorübergehen, habe ich wieder mal von diesen spektakulären Verbrechen gehört. Soll also keiner behaupten, im Kessel sei nichts los und das Herumgehen nicht mehr als eine Marotte oder kapitalismusfeindlicher Müßiggang.

Später kreisten zwei Polizeihubschrauber über der Stadt. Vermutlich hatte ein internationaler Abhördienst vom Ex-Kollegen Kühner das Wort „Amok“ aufgeschnappt.

Adieu, Bulle, bei der nächsten Mördertour bin ich dabei.

Der Schlossgarten ist schön, wenn die Menschen, unbeachtet von Polizisten, den Rasen erobern. Als ich ziellos auf dem Schlossplatz herumgehe, höre ich auffallend oft die Wörter „Erdogan“ und „Holland“. Im ersten Fall wird ein bekannter verbaler Amokläufer aus der Türkei abgehandelt, im zweiten ein ganzes Land auf einmal mit so viel Liebe überschüttet, dass man fürchten muss, wir gönnten den Holländern neuerdings sogar den Titelgewinn bei der Fußball-Weltmeisterschaft.

Möglich wurde diese Verbrüder- und Verschwesterung, weil die Niederländer bei den Parlamentswahlen ihren rechten Hassprediger Wilders ins Abseits gestellt haben. Künftig werde ich mich vor jeder blühenden Tulpe verneigen. Ihre Zwiebel könnte aus Holland stammen.

Vom Schlossgarten aus mache ich einen Abstecher in die Staatstheaterkantine, wo ich mit Thomas Koch, dem Direktor Kommunikation der Staatsoper, plaudere. Es gibt viel zu reden über diese Stadt in diesen Tagen, heute darüber nur so viel: Der Landesverband Band-Württemberg des Deutschen Bühnenvereins plant eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Offene Gesellschaft“. Der Auftakt ist für den 12. Mai im Landtag vorgesehen, das Motto lautet: „Gemeinsam für Vielfalt – Reden über das, was uns entzweit“.

Ja, reden muss man dringend, und womöglich stärken solche öffentlichen Auseinandersetzungen in Bürgerzentren und Theatern (!) unser demokratisches Bewusstsein viel besser als die tausendfach auf Parkbänken und im Internet postulierte Erkenntnis, wonach dieser Türke wohl doch kein echter Demokrat sei. Echte demokratische Gesinnung finden wir bei uns, wenn der Sozialdemokrat Nils Schmid mit ungeheurem Mut die Einkerkerung des Journalisten Deniz Yücel in der Türkei als „besorgniserregend“ wertet – gerade so, als bemängle er etwas zu wenig Regen für das Wohlergehen der roten Tulpen in unseren Vorgärten.

Nach diesem Ausflug in die höhere Politik zurück zum aufrechten Spaziergang, einer der wenigen erbaulichen Beschäftigungen unserer Zeit. Neulich habe ich zum wiederholten Mal in der Zeitung gelesen, die Stadt plane „Flaniermeilen“. Und zwar nicht nur zum läppischen Spazierengehen, sondern – Stuttgart bleibt Stuttgart – zur „Wirtschaftsförderung“: Bessere Fußgängerwege sollen das Geschäft ankurbeln.

Verehrte Rathausmitläufer, nennt Eure Hamsterrennstrecken zur Umsatzsteigerung weiß Gott wie – aber nicht ­„Flaniermeilen“. Kauft Euch ein Buch, lest auf einer Parkbank nach, was es mit dem Spazierengehen und Flanieren auf sich hat. Vielleicht begreift Ihr, warum der bewusste Fußgänger heute in modernen Städten wichtiger ist denn je. Leider ist er nur schwer zu finden zwischen den SUV-­Panzern auf den Straßen, die unsere Stadt auseinanderreißen und ganze Quartiere isolieren.

Ja, wir müssen darüber reden, was uns entzweit – und endlich was dagegen tun.

 

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