Bauers Depeschen


Samstag, 14. Februar 2015, 1418. Depesche



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Für den FLANEURSALON am Mittwoch, 11. März, in der Friedenau in Stuttgart-Ostheim gibt es noch Karten: 07 11 / 2 62 69 24.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



DER KLANG DER KLINGE

Als Spaziergänger bin ich nicht frei von Betriebsblindheit. Gelegentlich verliere ich ausgerechnet die Nachbarschaft, den eigenen Kiez aus den Augen. Es ist ein kalter, sonniger Februarmorgen, als ich im Westen aus dem Haus und dann durch die Traubenstraße gehe, linker Hand der Hölderlinplatz. An der Ecke Ludwig-Pfau-Straße arbeitet Timi der Barbier. Am Eingang seines Herrensalons steht eine alte Schreibmaschine. Retro-Deko. Timi, eigentlich Shpëtim Osmani, rasiert gerade einen Kunden mit dem Messer, und vom Hörensagen weiß ich, dass ich schlechte Karten habe: Der nächste freie Termin für eine Rasur mit Zitronenkompressen, Dachshaarpinsel und Messer ist erst in vier Wochen. Kein Problem. Bis dahin werde ich mich selbst rasieren, und das neuerdings mit großem Vergnügen.

Doch der Reihe nach. Wir lassen uns Zeit, und wenn wir dem Bart beim Wachsen zuschauen, ist das spannender als die derzeitige Diskussion, wer neuer Baubürgermeister wird. Und dann die Befehle der Investoren und ihrer Rathaus-Lobbyisten befolgt.

Gegenüber Timis Salon ist die italienische Bar Vicino. Hier triffst du Tod und Teufelin, hie und da die Komikerin Christine Prayon, dem Fernsehpublikum als Birte Schneider aus der „Heute Show“ des ZDF bekannt. Ein paar Meter weiter arbeitet Johannes Metzner. „Moderne Schuhreparatur“ steht über dem Ladeneingang. Ich kaufe Spanner mit Holz für meine Stiefel. Der Schuhmachermeister Metzner ist 77, seit vierzig Jahren führt er seinen Laden. Davor wurde in den Räumen Milch und Käse verkauft. Er arbeite, sagt er, damit er nicht wie viele Rentner Depressionen bekomme. Die Leute im Westen brauchen ihn.

Vor der Tür begegnet mir die Schauspielerin Lucia Schlör, sie ist auf dem Weg zur Bäckerei Willi Kratz. Hier gibt es die besten Laugenwecken weit und breit, sagt sie. Gegenüber liegt die Blumen-Insel; der Laden gehört Dilaver Gök, einem Kollegen von Lucia. Manchmal tritt er in seinem Geschäft bei abendlichen Comedy-Shows auf.

Eigentlich sollte ich jetzt Richtung Arbeitsgericht abbiegen und mich im benachbarten Café Stöckle in Juristen-­Gesellschaft vor der Arbeit drücken. Aber da ist noch die große Rasiergeschichte, und die führt ein paar Schritte weiter: zu Anne John, Schwabstraße 183.

Frau John, gelernte Pädagogin, hat nach ihrer Umschulung vor dreizehn Jahren den Kosmetikladen Balance eröffnet. Haut- und Wellness-Behandlungen, Beratung, Bio-Produkte. Bei ihr erfahren wir etwas über die Vorzüge einer guten Seife gegenüber dem Waschgel. Sie weiß viel über die Sensibilität eines lebenswichtigen Organs namens Haut, führt auch Riechfläschchen mit Kräutern und französische Geruchsverzehrer, macht aber einen so bodenständigen Eindruck, dass keiner an Esoterik denkt. Bei mir gibt es kein Chichi, sagt sie. Nein, es geht ums Durchhalten im Kampf gegen die Konzernfilialen.

Ich bin jahrelang an ihrem Laden vorbeigegangen, eher achtlos, hie und da eine Spezialcreme, wenn nach der Amateurrasur die Haut gejuckt hat. Dann kam der Tag, als mein Blick an den Rasierern im Schaufenster hängen blieb. An diesen formschönen Objekten aus Edelstahl. Man spricht von einem Griffkörper und dem Kragen für die traditionellen Stahlklingen. Die sind edel, anders als die in Plastik versenkten Dinger, mit denen sich Frauen die Beine rasieren.

Ich habe mir einen Klassiker von Mühle aus dem Erzgebirge gekauft. Mühle wurde im 19. Jahrhundert gegründet, in der DDR verstaatlicht, nach der Wende privatisiert und international erfolgreich. Mein Rasierer kostet vierzig Euro, es gibt viel teurere, virtuos geformte Instrumente mit Schmetterlings-Öffnung oder Bajonett-Verschluss für die Klinge. Die Investition wird sich amortisieren, traditionelle Klingen, lange nur noch an den Ketten von Punks zu sehen, sind entschieden billiger als die Vielfach-Schneiden aus der TV-Werbung.

Seit ich mein Edelmetall habe, macht mir Rasieren zum ersten Mal im Leben Spaß. Das Gesicht heiß waschen, mit der Seife einpinseln, den Schaum drei Minuten einziehen lassen. Das Gewicht des gut in der Hand liegenden Stahls spüren, die Klinge legt sich mit betörend-knisterndem Sound auf die Haut. Das ist so erregend, wie die Nadel eines Plattenspielers auf eine Vinylscheibe zu setzen. Und am Ende Balsam. Nicht umsonst redet man in spanisch sprechenden Ländern vom „Ritual del Hombre“.

Die Nassrasur ist weltweit ein Männerkult, vor allem in Großstädten. Bei Frau John erhält man das in zwei Sprachen produzierte Magazin „Rasier-Spiegel“, auch im Internet gibt es grenzenlos Lektüre. Anne John, 61, hat seit jeher ihre kleine Barbier-Abteilung im Laden. Und bevor Timi der Barbier seinen Salon eröffnete, hatte er bei ihr von Zeit zu Zeit Männer mit Pinsel und Messer auf den Geschmack gebracht.

Im Laden steht noch der schöne Rasiersessel, ein mit Leder gepolsterter Öldruckpumpstuhl. Funktionale Handwerkskunst. Weil die schwere Metallplatte am Fuß eines solchen Sitzes selbst schwerem Seegang standhält, sind historische Rasiersessel auch bei reichen Jacht-Besitzern sehr gefragt und nicht leicht zu bekommen.

Vor der eigenen Haustür ist viel im Fluss. Mehrfach war ich zuletzt in den neuen Einkaufsklötzen der Stadt. Gelangweilt habe ich mich gekratzt, wo die unrasierten Haarstoppeln jucken. 



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