Bauers Depeschen


Freitag, 04. Januar 2013, 1035. Depesche

 

SOUNDTRACK DES TAGES



Die StN-Kolumne - dem Freund und Kollegen Bruno Bienzle zum Siebzigsten



GRÜSS GOTT, HERR FUSSBALL

Kurz bevor das Jahr 2012 zu Ende ging, schickte er seiner Familie und seinen Freunden eine E-Mail, und inzwischen habe ich sie mehrmals gelesen. Er wünschte uns „ein erträgliches Jahr 2013“ und machte uns Mut fürs Leben: „Müssen wir uns von allem und jedem in Beschlag nehmen, gar bedrängen und beeinträchtigen lassen? Wir müssen nicht! Machen wir uns also frei von allem, was wir nicht beeinflussen können, und konzentrieren wir uns auf jene Themen, die uns direkt angehen und auf die wir einwirken können.“

Bis hierher ging es um eine Anstiftung zum Denken, danach um die Konsequenzen:  „Machen wir uns aber auch klar, dass sich dicke Bretter nur im Zusammenwirken mit vielen bohren lassen. Dürfen wir nicht dankbar sein, dass Politiker und Geldhaie zuverlässig dafür sorgen, dass unser Adrenalinspiegel uns vor Lethargie bewahrt? Wo unsere Zukunft und die unserer Kinder tangiert ist, sind wir gefordert.“

Eigentlich bin ich nicht berechtigt, diese Sätze aus privater Post in der Zeitung zu zitieren. Es geschieht jedoch im festen Glauben, der Urheber werde es verzeihen. Schließlich kennen wir uns seit fast vierzig Jahren, und da ist einiges möglich, ohne dass gleich der Adrenalinspiegel steigt.

Den Silvesterbrief hat er an seinem Laptop mit einer sogenannten Mund-Maus geschrieben. Man nennt dieses Werkzeug auch Integramouse; die Gebrauchsanweisung liest sich so: „Die Integramouse erlaubt es dem Benutzer, mit dem Mund alle Funktionen einer Computermaus zu aktivieren. Mausklicks mit der linken oder der rechten Maustaste werden durch Luftdruckveränderungen in der Mundhöhle und damit im Mundstück ausgelöst. Ein minimales ­Saugen oder Blasen genügt.“

Mit dieser Technik schreibt seit geraumer Zeit der Journalist Bruno Bienzle. Fehlerfrei. Elegant wie eh und je. Bis zu seinem Rentenantritt 2006 hat er jahrzehntelang als Redakteur bei den Stuttgarter Nachrichten gearbeitet, war unter anderem Sportchef und Lokalchef. Eine Figur der Stadt. Im Oktober 2009, bei einem Routineausflug mit seinem Fahrrad in der Nähe seines Hauses in Nürtingen, hatte er einen Unfall. Seitdem ist er vom Hals abwärts gelähmt. Das Unglück ist schwer fassbar. Keine Fremdeinwirkung. Eine falsche Bewegung.

Die Literatur kennt diesen Moment des „Was ist, wenn ... “, diesen schicksalhaften Bruchteil einer Sekunde, der darüber entscheidet, wie sich die Dinge ändern. Bruno Bienzle hat sich mit diesem Bruchteil einer Sekunde auseinandergesetzt und das Unvorstellbare akzeptiert. Eine Freundin sagte neulich, sie benutze ein Wort seit jeher eher skeptisch, in diesem Fall aber ohne Bedenken: Bruno Bienzle, sagte sie, sei ein Held.

BB, wie ihn die Kollegen nennen, ist einer aus Stuttgart. 1943 in der Stadt geboren und aufgewachsen. Belesen, gebildet. Ein präziser Denker. Er kann einem die Phasen seines Zustands unaufgeregt, beinahe distanziert erklären. Es gibt Hochs und Tiefs in seinem Leben. Wochen, wo er im Rollstuhl sitzen kann. Wochen, wo er nur liegen kann. Es gibt Zeiten, in denen die Lähmung von schmerzhaften Beschwerden begleitet ist. Tage, an denen es hart ist, das Wachsein zu ertragen. Nächte, in denen keine Hoffnung besteht auf Schlaf.

Bruno Bienzle hat eine große Familie, seine Frau Annerose ist bei ihm, vier Kinder halten zu ihm. Wenn er darüber nachdenkt und spricht, worauf er sich konzentrieren muss, was er beeinflussen kann, wozu das Leben ihn herausfordert, denkt er an seine Familie. Familie bedeutet Leben in der Gemeinsamkeit. Ist die Gemeinsamkeit bedroht - womöglich aufgrund politischer Machenschaften - muss man etwas dagegen tun. Bruno Bienzle hat deshalb das Schreiben nie aufgegeben. Und er weiß verdammt viel, er besitzt dieses Elefantengedächtnis, den Speicher mit den guten Geschichten. Er beschäftigt sich mit Politik, mit Kultur, mit Sport, sieht die Zusammenhänge. Und er verkörpert die Geschichten, die ihm gefallen. Nie habe ich die Abende vergessen, an denen ihn die urschwäbische Wirtin der Weinstube Widmer in der Altstadt mit den Worten begrüßte: „Grüß Gott, Herr Fußball.“

Wenn man ihn besucht, wirkt der Herr Bruno, wie wir ihn kennen, aus den Tagen vor dem Unfall, als wir bei Paolo in Heslach seinen Abschied von der Redaktion feierten. Er kann erzählen, und er hat Humor. Sein Humor kommt, wie im Lehrbuch, aus einer Verkettung von Wahrheit und Schmerz – komisch werden die Dinge aus der Distanz des Denkers, in jeder Lage.

Es ist leicht, Worte wie Würde und Haltung hinzuschreiben. Schreibt man sie in einer Reihe mit Bruno Bienzle, erscheinen sie einem nicht wie hingeschrieben. Sie leben. Es steckt etwas dahinter. Respekt. Hochachtung. Die Dankbarkeit, von diesem Mann gelernt zu haben. Heute, am 4. Januar, hat Bruno Bienzle Geburtstag. Er wird siebzig. Wie er diesen Tag verbringen wird, bestimmen er und seine Familie. Ziehen wir aus der Ferne den Hut. Auch eine Verneigung wäre nicht falsch.



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