Bauers Depeschen


Donnerstag, 27. Dezember 2012, 1031. Depesche

NICHT WUNDERN: Diese Seite war vorübergehend außer Betrieb. Panne.



FLANEURSALON IM SCHLESINGER

Der erste Flaneursalon im neuen Jahr geht am Dienstag, 19. Februar, im SCHLESINGER über die Bühne. 20 Uhr. Erstmals mit UTA KÖBERNICK und ihrer Band Kritische Begleitung - und mit Dacia Bridges, Zam Helga und Roland Baisch. Karten gibt es in der Kneipe.



SOUNDTRACK DES TAGES



NOTIZ

Weihnachten ist gelaufen, bin ich auch, mit Serben-Eddy im Dachswald. Am Freitag um Mitternacht gibt es neue Ware, dann bin ich wieder auf dem Laufenden, heute erst mal eine alte Geschichte, womöglich gar nicht sooo scheiße:



LIEBE IN TÜBINGEN

Auf der Brücke über dem Fluss warfen mich die Musiker aus dem Auto. Es war schon dunkel am frühen Abend, die Musiker sagten, ich hätte genügend Zeit, bis die Show beginne. Die frische Luft, sagten sie, täte mir gut, ich solle mir Hölderlins Geist um die Nase wehen lassen. Dann fuhren sie davon.

Ich stand auf der Neckarbrücke in Tübingen und schaute aufs Wasser. Es schimmerte schwarz. Ich mag kein Wasser bei Nacht. Es erinnert mich an Clint Eastwoods „Mystic River“. Mein Gott, dachte ich, wie viele Leichen mögen in dieser Brühe schwimmen. Wie viele Abgründe tun sich hier auf.

Mein Blick löste sich vom Wasser, ich schaute mich um und sah ein Metallschild am Brückengeländer: „Fahrräder abstellen verboten“. Ich war zu Fuß, fasste mir ein Herz und ging über die Brücke.

Es war hundekalt, mich fror erbärmlich. Unglücklicher Friedrich, sagte ich, deine Liebe ist kalt und böse.

Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Ich war hierher gekommen, um einen Abend zu Ehren des verstorbenen Musikers Johnny Cash zu besuchen.

Ich wollte hören, wie einer singt: „I’m just goin‘ over Jordan“, wollte über den Mystic River, nicht über den Neckar von Tübingen, wo man viel mehr verbieten müsste als Fahrräder. Studenten mit Mützen, Studenten, die nirgendwo so dämlich grölen wie in Tübingen.

Vermutlich haben viele längst dafür gebüßt. Vermutlich liegen auf dem Grund des Neckars die Leichen unzähliger Studenten, krepiert unter den Säbeln, Fahnen und Witzen der Burschenschaftler.

Es wurde kälter, ich ging zum Auftauen in die Osiandersche Buchhandlung. Vor den Regalen beschlich mich ein böser Gedanke. Nicht was Sie denken, ich wollte keine Bücher klauen, ich wollte es Tübingen zeigen – seinem Fluss, seinen Brücken, diesen Fahrräder-verboten-Idioten.

Im Laden sah ich ein paar früh gealterte Pulloverträger und die Taschenbücher-Neuerscheinungen. Philip Roth, Jonathan Franzen, Leon de Winter. Das wollte ich nicht. Dann hatte ich Glück. Ich sah etwas, das mir den Abend retten könnte: „Nächte in New York – Erotische Erinnerungen“ von Diane di Prima. Ich blätterte darin, meine Nase begann zu tropfen. In diesem Buch war nichts verboten, gar nichts. Ich zahlte acht Euro neunzig und ging hinaus in den Weihnachtsbetrieb der Tübinger Innenstadt.

Ich suchte nach einem Platz, wo ich in Ruhe in meinem Buch lesen könnte, mich rächen an Tübingen, an dieser Stadt, die so erotisch roch wie gefrorene Hühnerschenkel.

Ich stapfte vor mich hin, bis ich wieder vor der Neckarbrücke stand. Linker Hand ein gläsernes Wirtshaus mit Namen Neckarmüller. Ich bestellte saure Kutteln mit Bratkartoffeln und las in den erotischen Erinnerungen: „Unser Kuss begann mit weichem Mund, entspannt, spielerisch, die Lippen streifend, der Versuch, ein Mund zu werden...“

Das ist gut, Tübingen, dachte ich, es wird bei diesem Kuss nicht bleiben heute Nacht, es wird eine Nacht, in der wir Fahrräder und Burschenschaftler knacken.

Als ich meine sauren Kutteln gegessen hatte, war es mir, als müsste ich die Toilette aufsuchen, bevor ich hinaus ginge ans Ufer des schwarzen Wassers, um in ein Taxi zu steigen. Ich ging die Treppe hinunter zum Herrenklo.

Als ich wieder hoch kam, las ich links an der Wand einen säuberlich hingemalten Spruch: „Liebe ist – deiner Frau nicht ständig das frische Bier wegzutrinken“.

Ich presste „Nächte in New York – Erotische Erinnerungen“ an mich und ging hinaus in die Nacht von Tübingen. „I’m just goin‘ over Jordan“, summte ich und stieg in ein Taxi. „Liebe“, sagte ich zum Taxifahrer, „Liebe ist, deiner Frau nicht ständig das frische Bier wegzutrinken.“ Er sah mich an, nickte wissend, und er sah aus, als hätte er promoviert.

Als ich aus dem Autofenster sah, war mir, als hätte der schwarze Fluss gestöhnt wie nach einem harten Kuss. Womöglich aber hatte der Mystic River gefurzt, entspannt, spielerisch, die Löcher dieser Geschichte streifend. Der Versuch, ein Arsch zu werden.

Seit diesem Abend weiß ich alles über die Liebe in Tübingen. Über die Unmöglichkeit, in dieser Stadt jemals ein frisches Bier zu trinken.



KOMMENTARE SCHREIBEN IM LESERSALON



FRIENDLY FIRE:

NACHDENKSEITEN

BLICK NACH RECHTS

FlUEGEL TV

RAILOMOTIVE

EDITION TIAMAT BERLIN

Bittermanns Fußball-Kolumne Blutgrätsche

VINCENT KLINK

KESSEL.TV

GLANZ & ELEND





 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·