Bauers Depeschen


Dienstag, 17. Januar 2012, 850. Depesche



FLANEURSALON LIVE

Viele Leute fragen immer noch nach Karten, aber es ist leider nichts mehr zu machen, der Flaneursalon am kommenden Samstag im Markt am Vogelsang ist ausverkauft. Unsere nächste Veranstaltung findet am Dienstag, 28. Februar, im Schlesinger statt - mit Stefan Hiss, Dacia Bridges, Tobias Borke. Karten gibt es in der Kneipe (07 11 / 29 65 15).

P. S.: Schön wären frische Kommentare im LESERSALON



SOUNDTRACK DES TAGES



NOTIZ, BAHNHOF

Aus medizinischen Gründen nehme ich eine kurze Auszeit, ein paar Tage lang gibt es keine StN-Kolumne, deshalb ein Blick zurück. Vor einem Jahr habe ich bei einer Montagsdemo vor dem Hauptbahnhof eine Rede gehalten. Leider blieb sie bis heute ziemlich aktuell, hier der leicht gekürzte Text:



Guten Abend vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof,

meine Damen und Herren, als ich das letzte Mal hier etwas gesagt habe, befanden wir uns, vier Wochen nach dem Schwarzen Donnerstag, gerade in der Stuttgarter Oktober-Revolte. Inzwischen ist es Januar 2011, es ist kalt, und die Stadt riecht nach Abriss und Landtagswahlkampf.

Wahlkampf ist, wenn die Verkehrsministerin Gönner durch ihren Heimatkreis Sigmaringen zieht und ihren Landsleuten weismacht:

Wenn Stuttgart 21 gebaut wird, sind alle Sigmaringer in 45 Minuten in Stuttgart (...)

Dazu muss man nichts sagen, das ist - wie gesagt - Wahlkampf – und jedes Land hat die Sarah Palin, die es verdient (...).

Mir geht es nicht um Wahlkampf. Auch die Eisenbahn wurde nicht nur erfunden, um den Bürgern Land wegzunehmen und darauf Luxusapartments hinzustellen wie hier auf dem Bahnhofsgelände. Man kann mit der Eisenbahn, wenn sie gerade mal fährt, auch eine schnelle Reise machen, zum Beispiel nach Frankfurt am Main, um dort die große Paul-Bonatz-Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum zu besuchen. Das habe ich gerade gemacht, und weil ich mir nicht anmaße, meine Sicht der Dinge als Maßstab zu nehmen, zitiere ich an dieser Stelle Dieter Bartetzko von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er schreibt über Paul Bonatz und den Stuttgarter Hauptbahnhof:

„Zu erkennen, dass die Bauherren von Stuttgart 21 mit diesem einzigartigen Denkmal so ignorant und stumpfsinnig umgehen wie 1928 die fanatischen Funktionalisten, die den Bau als reaktionären Giganten diffamierten, bleibt dem Besucher überlassen – denn nur mit extrem großen Scheuklappen könnte man im Deutschen Architekturmuseum die Verstümmelung des Stuttgarter Hautbahnhofs als Lappalie abtun.“

Die extrem große Scheuklappe ist heute das Symbol der Stuttgarter Stadtplanung; es passt gut zum Ross im Stadtwappen.

Was mir in den vergangenen Wochen aufgefallen ist: Sobald man Begriffe wie Historie, Denkmalpflege oder Kulturgeschichte auch nur ausspricht oder hinschreibt, kommen die S-21-Befürworter ums Eck und verbreiten die Phrasen, man romantisiere, verkläre, man trage die rosarote Brille.

Das ist ihre Rechtfertigung für ihre Geschichtslosigkeit. Seltsamerweise erinnern sich die gleichen Leute immer dann an Geschichte, wenn sie sich und uns den Bonatz-Bau als Nazi-Monument zurechtlügen. Das Thema Nazi geht immer, das kennen diese Leute aus dem Fernsehen. Selbstverständlich werden sie diesen Unsinn auch wieder verbreiten, wenn sie den Südflügel zertrümmern, dieses Dokument einer Architekturgeschichte, die zurückreicht bis zu den Ägyptern. Sie wissen nicht, was da vor ihnen steht, sondern beurteilen dieses Denkmal mit seiner großartigen Dynamik nach ihrem Privatgeschmack. Einem Geschmack, der schlecht ausgebildet ist, sich an den Erkenntnissen von Tourismus- und Spesenreisen in sogenannte moderne Großstädte irgendwo in der Welt orientiert. Diese Leute haben nicht das geringste Gefühl und auch nicht den Sachverstand dafür, wie diese Stadt Stuttgart ihre Identität, ihren Charakter und ihr Gesicht verliert, wie sie immer mehr zu einem austauschbaren Sammelsurium von Büro- und Wohneinheiten in der Innenstadt verkommt. Die Politiker dieser Stadt leiden an ihrem Betonkomplex.

Die Methode Stuttgart 21 strahlt längst aus. Bald werden wir erkennen, was an der Paulinenbrücke passiert, in diesem inzwischen ja bereits zum Geisterviertel mutierten Quartier. Man nennt es jetzt Quartier S (Anmerkung: heute "Das Gerber"), und dieser Name ist - wie auch die Bezeichnungen Mailänder Platz, Pariser Platz oder ähnlicher Großkotzigkeiten - ein Beispiel dafür, wie man einem Ort die Identität raubt und die Menschen aus der Stadt hinausbaut. Man wird die eine oder andere alte Fassade stehen lassen, so wie hier am Bahnhof, und das ist bezeichnend.

Meine Damen und Herren, Sie kennen alle den Schriftzug mit dem Hegel-Zitat am Hauptbahnhof, eine Arbeit und ein Geschenk des amerikanischen Concept-Künstlers Joseph Kosuth. Joseph Kosuth hat unlängst im Zusammenhang mit Stuttgart 21 Folgendes gesagt:

"Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so lässt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland."

Kosuth sagt uns: Es geht gewissen Stadtplanern, Politikern nicht darum, Altes und Neues zu verbinden, wie es große Architekten andernorts vormachen. Es geht ihnen nicht darum, Entwicklungen zu erkennen und daraus zu lernen. Deshalb reagieren sie so allergisch, wenn sie das Wort Geschichte hören und ihren dummen Spott über ihren eigenen Opa ablassen, sobald man sie an die Errungenschaften der Vergangenheit erinnert. Diese Leute - man findet sie in den Wahlkampf-Quartieren der Parteien - sind früh vergreist und halten ihre Senilität für Fortschrittsdenken. Albert Einstein, den ich nicht zitiere, weil man ihn auf Kalenderblättern findet, sondern weil er im unglückseligen Ulm geboren ist (zum Glück, bevor dort ein Herr Gönner am rechten Ufer der Donau sein Unwesen trieb) hat gesagt: „Fortschritt ist der Austausch von Wissen.“ Bei uns bedeutet Fortschritt die Ignoranz von Geschichte und Wissen. Den Austausch von Wissen haben Politiker durch die Floskel Kommunikation ersetzt, ein anderes Wort für billige Propaganda.

Euro-Disneyland, das ist die Zukunft, meine Damen und Herren, darauf laufen Projekte wie S 21 hinaus. Euro-Disneyland bedeutet Dagobertismus, auch Casino-Kapitalismus genannt. Euro-Disneyland ist das, was sie meinten, als sie in ihrem üblichen Größenwahn vom neuen Herz Europas faselten. So wird Stuttgart ein Allerweltsgebilde aus Shopping Malls, Apartment- und Bürokomplexen.

Da die Beton-Planer ja die Zukunft, den Fortschritt und vor allem, wie sie glauben, das Marketing erfunden und für sich gepachtet haben, fragt sich der halbwegs wache Marketingmensch: Was wollen sie eigentlich mit ihrer Konfektionsware, sollen Euro-Disneyland-Buden das schaffen, was sie so gern als Marke deklarieren? Sie produzieren keine urbane Marke, keine Alleinstellungsmerkmale, um in ihrem läppischen Sprachgebrauch zu bleiben, sondern Wortmüll und Logos, über die nicht nur jeder Grafiker lacht, der noch einen rechten Winkel in seinem Computer von einem Eierfleck auf seiner Hose unterscheiden kann.

Meine Damen und Herren, seltsamerweise reagieren die Menschen blitzschnell auf Dinge wie den Dioxin-Skandal. In meinem Bio-Supermarkt um die Ecke gab es prompt keine Eier mehr. Warum aber reagieren viele nicht, wenn man ihr Stuttgart zwar nicht mit Dioxin, so doch mit einer menschenfeindlichen Stadtplanung vergiftet. Da müsste doch Zilles Satz, wonach man einen Menschen mit einer Wohnung wie mit einer Axt erschlagen kann, in die Zukunft führen: Mit einer bestimmten Art Städtebau, mit jenem scheinheiligen Fassadismus, den Joseph Kosuth beschreibt, wird man viele Menschen vielleicht nicht erschlagen. Aber man wird sie aus ihrer Stadt vertreiben. Denn die Stadtentwicklung schafft die Voraussetzungen dafür, wer sich was in Zukunft noch leisten und wo er wohnen und leben kann.

Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen: Stuttgart, diese einzigartige, liebenswerte Stadt im Kessel unter den Hügeln - oder das Quartier XY, eine Art betonierten Euro- und Globalpudding (...)

P. S.: Am kommenden Samstag, 21. Januar 2012, findet vor dem Bahnhof eine Demonstration des Aktionsbündnisses gegen S 21 statt; man hat mich als Gastredner eingeladen. Beginn 14.30 Uhr.



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