Bauers Depeschen


Mittwoch, 28. Dezember 2011, 839. Depesche



FLANEURSALON LIVE

Für unsere Lieder- und Geschichtenshow am Samstag, 21. Januar, im Markt am Vogelsang (Bauernmarkthalle West) gibt es nur noch wenige RESTKARTEN. - Der nächste Flaneursalon findet am Dienstag, 28. Februar, im Schlesinger statt - mit Stefan Hiss, Dacia Bridges, Toba Borke. Karten gibt es nur in der Kneipe.



SOUNDTRACK DES TAGES



Die StN-Kolumne von diesem Mittwoch:



HIRSCH DA LUPO

Zwischen den Jahren spürt man die Rhythmusstörungen in der Stadt. Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus sind am Morgen nicht viele Obst- und Gemüsehändler da. Die aufgekitschten Bretterbuden des Weihnachtsmarkts sind verschwunden, der Platz liegt da wie ein verlassenes Camp. Auf den Pflastersteinen Tannenzweige, als hätte man im Nahkampf Christbäume gerupft, und aus den Freiluftboxen bei Breuninger dröhnt „Kling, Glöckchen, klingelingeling“. Der Kaufhaus-DJ bemerkt sein falsche Timing und schaltet schnell um auf Hotelbar-Jazz.

Die Jazzmusik in Deutschland, habe ich am Morgen in der Zeitung gelesen, schwächelte im alten Jahr bedrohlich. Um nicht frühzeitig dem Jazz zu folgen, kaufe ich mir auf dem Markt ein Glas Hägenmark. Ein Löffel Hägenmark am Morgen macht stark, wenn die Dinge zu Ende gehen. Bevor Weihnachten zu Ende gegangen war, bin ich zum ersten Mal mit der neuen Stadtbahn-Linie 15 nach Stammheim gefahren. Straßenbahnfahren gestaltet sich an harten Tagen in unerforschten Gegenden weniger depressiv, als zu Fuß zu gehen.

Die wenigen Leute in der Bahn sprechen Italienisch oder Türkisch, und sie klingen, als hätten sie gute Gründe, fröhlich zu sein. Ich schaue zum Fenster hinaus, versuche mir einen Reim auf die Plakatwerbung von Marlboro zu machen: „Don’t be a Maybe“. Meine Übersetzungskünste sind landläufiger Natur: „Sei kein Vielleicht-Vogel“, notiere ich, „sei keine Mal-so-mal-so-Memme“, „sei kein Eventuell-Esel“.

Sei ein Kerl. Friss eine Marlboro.

Leider rauche ich sei Jahren nicht mehr, und meine Maybe-Übersetzung zündet auch nicht. Dann kommt es mir. Das englische Maybe als Hauptwort bedeutet zu Deutsch: der Womögliche. Jeder weiß sofort, was ein typischer Womöglicher ist: ein Grünen-Politiker, einer wie Cem Özdemir. Heute so, morgen so, und übermorgen klingelingeling. Cem Maybemir.

Nordbahnhof, Pragsattel, Feuerbach, Zuffenhausen. Die Kneipen linker Hand heißen, als hätte es die Globalisierung nie gegeben, Linde und Wallenstein, Löwen und Sonne. Die Sonne – man kann es weithin lesen – offeriert Übernachtungen ab 23 Euro. Ein fairer Preis zum Probeliegen.

Die Bahn fährt zügig, wir lassen die Sonne und viele Zockerbuden hinter uns, und bald sind wir in Stammheim. Ich entdecke das Straßenschild „Tuchbleiche“. Früher wurde hier, das lese ich später im Buch der Straßennamen, handgewobenes Leinen auf den Wiesen der Sonne zum Bleichen ausgesetzt. Heute ignoriert man dummdreist Flurnamen in der Stadt. Fortschrittlich angelegte Quartiere heißen Pariser Höfe oder Mailänder Platz. Dort setzt man mit sonnigem Lächeln Menschen der Billigarchitektur zum Bleichwerden aus.

Wenn man an der Endstation Stammheim aussteigt, landet man, grob gesagt, zwischen dem Fachwerkhaus mit der Gaststätte Rössle und dem etwas konventionelleren Altbau mit dem Asperg-Stüble. In beiden Kneipen ist das Bier günstig, keine Orte für zögerliche Maybes.

An der Haltestelle sehe ich ein Plakat: „Flittchen im Kittchen“, das brandneue „SingSingSpiel“ im Renitenztheater. „Sing Sing“ war hierzulande mal ein anderes Wort für Gefängnis (=Kittchen), vorzugsweise in deutschen Film- und Fernsehklamotten Mitte des vorigen Jahrhunderts.

Sing Sing heißt bis heute der berüchtigte Hochsicherheitsknast im US-Bundesstaat New York, benannt nach dem Indianerwort „Sint Sinks“: Stein für Stein. Die Insassen des Kerkers mussten Sing Sing im 19. Jahrhundert selbst bauen. Die moderne Marktwirtschaft kennt diese Produktionsweise als Synergie-Effekt.

Von der Endhaltestelle aus sieht man das Stuttgarter Sing Sing, berühmt und berüchtigt als Stammheim. Als Gefangener kann man sich, sofern des Deutschen mächtig, keinen zynischeren Namen für einen Knast vorstellen als Stammheim. Vor dem Gefängnis angekommen, sehe ich am Besuchereingang den Hinweis: „Tür öffnet und schließt selbsttätig.“ Bleibe lieber draußen.

Imposant ist die Umgebung der Justizvollzugsanstalt Stuttgart (so heißt der Bau offiziell). In der Nachbarschaft ist der Treff „Sieben Morgen“ untergebracht, das soziale Stamm-Heim der freien Jugend. Davor hat man hohe Schutzschilde aus Stahl und Holz aufgestellt, wohl um den Insassen den Blick auf die Zukunft zu verbauen.

Den entscheidenden Beweis für eine erfolgreiche Intergrationspolitik in Stammheim finde ich auch außerhalb der Knastgegend. Ich komme an einer Pizzeria vorbei, und als ich den Namen der Kneipe lese, geht er mir runter wie zwei Löffel Hägenmark: „Hirsch – da Lupo“. Ein Hoch auf Lupo, den guten Wolf von Stammheim. Er hat dem alten Hirsch die Haut gerettet.



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