Bauers Depeschen


Dienstag, 12. April 2011, 708. Depesche



DIE AKTUELLE STN-KOLUMNE ("Über dem Tal, kurz vor Texas") findet man STN ONLINE.



NÄCHSTER FLANEURSALON

Am Donnerstag, 5. Mai (20 Uhr), sind wir erstmals in der Straßenbahnwelt Bad Cannstatt zu Gast. Gute Kulisse. Mit Stefan Hiss, Dacia Bridges, Michael Gaedt (siehe Termine). Über großes Interesse aus weiten Kreisen der Bevölkerung würde ich mich freuen.



SO WAR DAS

Am Montag hatten wir beim Veranstalter-Team MONTAGEGRUPPE im Club Tonstudio, Ecke Theodor-Heuss-/Lange Straße, einen schönen Abend zum Thema "Vereinigte Hüttenwerke". Mit Gerhard Goller, dem ehemaligen Leiter der Stuttgarter Gaststätten-Behörde, und Oskar Müller, dem Chef der Uhu-Bar in der Leonhardstraße, besprach ich vor einem erstaunlich zahlreichen und neugierigen Publikum die guten Zeiten im Stuttgarter Rotlichtmilieu. Gerhard Goller zeigte mithilfe eines Zeiss-Projektors einzigartige Dias aus den Striptease-Bars. Eine kleine Erinnerung aus meinem Fundus:



DAMALS, NACHTS

Bei der Fußball-WM 2006 war Portugal gerade aus dem Turnier geflogen, als ich beinahe eine wichtige Meldung überhört hätte. Die Spätnachrichten des ZDF warten die Zuschauer, in England werde die Sperrzeit in den Pubs aufgehoben, um künftig – ich zitiere - "das Kampfsaufen unter Zeitdruck" einzudämmen. Zuvor hatten die britischen Pubs um 23 Uhr schließen müssen und waren deshalb gezwungen, bis zum Morgengrauen hinter verrammelten Türen grauenhaftes englisches Bier bei Kerzenlicht zu zapfen.

Das Schicksal dieser armen Teufel erinnerte mich daran, wie schwierig es noch bis Mitte der achtziger Jahre war, in Stuttgart nächtens ein geöffnetes Lokal zu finden. Fast alle Kneipen litten unter dem provinziellen Zapfenstreich um Mitternacht. Bei Zuwiderhandlung stand zehn Minuten später die Polizei am Tresen, vor allem in den Siebzigern, als die RAF-Terroristen in Stammheim einsaßen. Und die Schmier, wie man die Bullen nannte, war nur in Ausnahmefällen mit einem Drink zu beruhigen. Leider waren damals noch nicht alle korrupt.

Wo heute die erbärmliche Architektur des Schwabenzentrums vor sich hinfault, standen bis weit in die siebziger Jahre hinein Rotlicht-Baracken auf ehemaligem Brachland. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs hatten das Gelände eingeebnet. Immer freitags, wenn die Arbeiter in bar ausbezahlt worden waren, stieg in dieser Kirmes-Kulisse der sogenannte Lohntütenball. Die Familien der Arbeiter mussten danach eine Woche hungern.

Die Buden-Siedlung, ein Treffpunkt für Rock'n'Roll-Fans, Sextouristen und andere Banditen, wurde Nacht für Nacht von zwei alten Frauen mit einem mobilen Imbiss-Karren versorgt. Die Frauen kredenzten scharfen Schweinebauch und ebenso fette Würste. Ein Mann, der im Krieg ein Bein verloren hatte, verkaufte Schnürsenkel und Taschenkämme. Ich habe heute noch welche davon. Eines Tages tauchte er nicht mehr auf, es hieß, er habe im Lotto gewonnen.

Von den damals halbwegs seriösen Lokalen im Stadtzentrum besaß nur die Weinstube Widmer (heute Weinstube Fröhlich) eine Schankkonzession bis zwei Uhr. Diese verkürzte Sperrzeit hatten Schauspieler, Sänger und Balletttänzer in jahrelangem Kampf gegen die Nachtwächter im Rathaus erstritten. Ihre revolutionäre Forderung lautete, auch die künstlerische Spätschicht habe ein demokratisches Recht auf ein Nachtmahl mit Schlaftrunk.

Die Wirtin "Melle" Widmer, eine ehemalige Balletttänzerin, zeichnete sich in der Leonhardstraße durch unnachahmliche Freundlichkeit aus. Sobald einer an ihre immer zu früh geschlossene Tür hämmerte, steckte sie den Kopf durch einen Türspalt und gurgelte in breitem Schwäbisch: „Gang no, wo du herkommscht.“ Das ging aber nicht. Denn dort, wo man gerade herkam, war bereits geschlossen. Einziger Lichtblick neben der Widmer waren der Brunnenwirt und das Cafe Weiß. Oft traf man sich morgens um sechs durchfroren im Schiller. Dort saßen alle. Banditen, Bullen, Richter. Aber das ist eine andere Geschichte.

Unter den professionellen Nachtgestalten wurden im Lauf der Zeit überall in der Stadt subversive Codes und Klopfzeichen entwickelt, um die Gesetze zu unterlaufen. Das griechische Lokal Pireus in der Hasenbergstraße, Treffpunkt von Ballettleuten, Fußballprofis und Journalisten, hatte ein Arrangement mit der Polizei getroffen. Immer wenn die Schmier nach zwölf auftauchte, hob oder senkte der Wirt Jürgen Kallergis unauffällig den Daumen. Gehobener Daumen bedeutete: Die Gäste sind in Ordnung, die Polizei kann gehen. Gesenkter Daumen: Die Gäste gehen mir auf den Zeiger, bitte räumen.

Stammgast im Pireus war der Ballettdirektor John Cranko. Er tanzte oft mit seiner Kompanie auf dem Tisch. Ein unvergesslicher Anblick: Trainierte Damen mit kleinen Brüsten in engen Lederjacken und noch engeren Jeans. Das Pireus machte Ende der achtziger Jahren dicht. Wirt Jürgen Kallergis ist im August 2010 im Alter von 64 Jahren gestorben.

Es gab außer diesem Zufluchtsort die eine oder andere Disco, etwa das AT am Hirschbuckel, und in letzter Not einige Rotlicht-Etablissements wie das einst berühmte Balzac (heute Champaine) in Rathausnähe oder das Excelsior in der Königstraße, wo Herren der Kulturszene gastierten, die sich die Gangsterpreise leisten konnten.

In diesem Milieu arbeitete man sich als Neuankömmling nach jahrelanger Lehrgeldzeit mühsam und fast immer pleite - im Jargon "stier" - durch die Nacht, ehe im Morgengrauen ein Bäcker erste Hilfe leistete. Die gastfreundlichste Brotstube der Stadt gehörte und gehört bis heute der Familie Schmälzle in der Hauptstätter Straße. Der Chef versorgte die Hungrigen in den harten Jahren schon Stunden vor der erlösenden Öffnung seines Cafés um sechs Uhr klammheimlich mit frischer, heißer Nahrung durchs Fenster der Backstube. Seine Schinkenhörnchen waren in der ganzen Stadt berühmt.

Ohne die Schmälzles wären viele gute Stuttgarter Männer und Frauen in der Nacht verloren gegangen. Im Cafe Schmälze wurden Beziehungen gekittet und zertrümmert. Hier wurden Weltrevolutionen geplant und Dichter wie Baudellaire und Proust vom Feuilleton-Journalisten und späteren Widmer-Wirt Hans Fröhlich in ihre Einzelteile zerlegt. Hans Fröhlich ist 1996 mit 61 Jahren gestorben.

Die Bäckerfamilie in der Hauptstätter Straße gibt es noch heute. Die Schmälzles gehören zu den letzten Überlebenden einer Zeit, in der es in Stuttgart schlimmer zuging als in England, wo die Pubs um elf Uhr schließen und deshalb viele Männer im Ehebett sterben mussten.

SOUNDTRACK DES TAGES



ACHTUNG - FLANEURSALON IM FLUSS

Der Vorverkauf für den Flaneurslon im Fluss am Mittwoch, 29. Juni, auf dem Neckarschiff "Wilhelma" ist gut angelaufen. Ausflug mit Zam Helga, Roland Baisch & Friends, Michael Gaedt, Dacia Bridges - und zu unserer großen Freude hat inzwischen auch der Berliner Kabarettist Nils Heinrich zugesagt. PASSAGIERSCHEINE



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