Bauers Depeschen


Donnerstag, 06. Mai 2010, 496. Depesche





JOE BAUERS FLANEURSALON IM FLUSS

am Donnerstag, 17. Juni, auf dem Neckar-Schiff "Wilhelma". Mit Los Santos (Stefan Hiss), Roland Baisch, Dacia Bridges, Michael Gaedt & Anja Binder und weiteren Piraten... INFOS & VORVERKAUF (siehe auch Depesche vom 27. April)



Die Griechenland-Schlagzeilen haben mich daran erinnert:



NACHTS, WENN DIE TÄNZER KAMEN

John Cranko und das Kneipenleben in der Stadt



Guten Morgen, Mr. Cranko. Habe ich Sie je gesehen? Ja, nicht lang her. Ich sehe Sie jeden Tag, wenn ich ins Büro gehe. Sie stehen am Redaktionseingang der Stuttgarter Nachrichten. Helles Hemd, schwarze Hose, 24-Stunden-Bart. Den Daumen der rechten Hand im Hosenbund eingehakt, das rechte Auge weiter geöffnet als das linke. Guten Morgen, Mr. Cranko, ich bin wie immer zu spät. Sonst hätte ich Sie ja früher getroffen.

Es war Allerheiligen 2001, die Stadt am Abend gottverlassen. Ich ging vom Bahnhof Richtung Eckensee. Vor dem Schlossgartenhotel blieb ich am Fenster der John Cranko Lounge hängen. Ein Unsichtbarer zog mich in die Bar.

Wir waren zu zweit. Der Barmann und ich. Ob er einen John-Cranko-Cocktail habe, fragte ich. Nein, sagte er, aber das sei eine gute Idee. Ich blätterte in der Cocktail-Karte und fand im Begleittext einen lustigen Satz: „Die Schwaben gelten in der internationalen Ballettszene als Trendsetter der Moderne.“ Die Schwaben. Ein Viertel der Einwohner von Stuttgart sind Ausländer.

Das Stuttgarter Ballett stieß gerade auf seinen 40. Geburtstag an. Nur: In welcher Cranko-Lounge? Gäbe es noch das Griechen-Lokal Pireus in der Hasenbergstraße, ich hätte dort einen Gedächtnisschluck genommen. Im Pireus (heute Troll) hat Crankos Geist lange gespukt, bis 1989, dann wurde die Kneipe geschlossen.

Der Ballettdirektor John Cranko war gebürtiger Südafrikaner, gelernter Weltbürger und nachts Grieche. Das Pireus, 1955 von Marianne und Nico Kallergis als Stuttgarts erstes Griechenrestaurant eröffnet, war in den 60er Jahren und bis Anfang der 70er Jahre die Nebenbühne des Stuttgarter Balletts. Übrigens auch Treffpunkt der Fußballprofis, fragen Sie Hansi Müller und Kollegen.

„Das Pireus war unsere Hauskneipe“, erzählt mir der Designer und Schriftsteller Kurt Weidemann, er war einst Stammgast in der Hasenbergstraße. „Es gab ein gewisses Polzeirevier in der Stadt, Namen lassen wir weg, ich glaube, die fanden uns nett. Sie ließen uns problemlos durchmachen bis morgens um vier.“ Offizielle Polizeistunde war um zwölf. Wenn die Polizei nach zwölf auftauchte, hob oder senkte der Wirt Jürgen Kallergis unauffällig den Daumen. Gehobener Daumen bedeutete: Die Gäste sind in Ordnung, die Polizei kann gehen. Gesenkter Daumen: Die Gäste gehen mir auf den Zeiger, bitte räumen.

Das waren die Regeln.

Selten, sagt Weidemann, habe er eine „solche Herzlichkeit“ erlebt wie in Crankos Tänzertruppe. Es habe eine wunderbare Ausgelassenheit und Aufgeschlossenheit geherrscht. Cranko, sagt Weidemann, „war als Chef ein Kumpel, kein Krieger“.

Nico Kallergis – sein Sohn Jürgen stand bereits hinterm Tresen – saß oft mit Cranko an der Bar. Nico Kallergis gab auch den Scout auf Crankos Griechenland-Touren. Einmal holte er den Ballettchef im Hilton in Athen ab, um ihn zu einer Audienz beim Kulturminister zu fahren. Der Choreograf kam barfuß aus dem Hotel. „John“, sagte Nico, „wir gehen zum Minister.“ „Ist schon okay“, sagte Cranko, „ich hab`s nicht vergessen.“ Er tanzte, wenn er Lust hatte, barfuß in der Sonne.

Seine Kompanie flog unterdessen durch die Stadt. Die Menschen in der Stadt waren hin und weg. Der Filmemacher Dieter Zimmermann, damals Student, arbeitete in der Kneipe Tangente, Schlossstraße. Er war Plattenaufleger, Kartenabreißer, Garderobier. Nachts, nach der Arbeit, kamen Cranko und die Tänzerinnen. Lange Haare, flache Brüste. Lederjacken mit Reißverschluss, Jeans, Stiefel. Dann träumten die Männer den Hippie-Traum vom letzten Tango in Paris.

Für besondere Gäste gab es in der Tangente abschließbare Schubladen. Eine gehörte Cranko. Sie barg immer eine Flasche Ballantines. Damit ist das Gerücht widerlegt, er habe nur Bier und Wein getrunken.

Vor allem hat er das Leben auf offener Bühne geliebt, geschlossene Vorhänge waren ihm zuwider. Er saß nicht im Direktionsbüro, er saß in der Theaterkantine und in der Kneipe. „Cranko liebte das Mannschaftsspiel, er machte keine Show wie Woody Allen, der einmal in der Woche in seiner New Yorker Kneipe für die Touris Klarinette spielt“, sagt Kurt Weidemann.

Es gab die andere griechische Ballett-Filiale, das Mimis in Gablenberg. Chef Mimis war vor seiner Kneipenkarriere bei Kallergis als Musiker aufgetreten. Nachtmusik war immer im Spiel. Keine Ahnung, warum trotzdem die Mär verbreitet wurde, in Stuttgart würden nach Büroschluss die Bordsteine hoch geklappt. Nachts tanzten die Herrschaften auf dem Tisch. Die Polizei tanzte manchmal mit.

In Crankos Gefolge kam reichlich Prominenz in die Stadt.

Einmal saß der Filmstar Horst Buchholz („Die glorreichen Sieben“) mit Cranko im Pireus. Es gab einen Deal. Kallergis junior lehrte den Schauspieler Sirtaki tanzen, Buchholz den Wirt im Gegenzug den Tanz auf Skiern, nicht im Pireus, in Graubünden.

1973 ging das Stuttgarter Ballett auf USA-Tournee. In Amerika engagierte Cranko nach einem Casting mit 200 Tänzern Bill Forsythe, Chris Boatwright und Melinda Witham. Als das Trio in Stuttgart eintraf, war John Cranko tot. Auf dem Rückflug gestorben, 45 Jahre jung, wie Jimi Hendrix am eigenen Erbrochenen erstickt.

Nico Kallergis ist tot. Chris Boatwright ist tot. Mimis serviert in irgendeiner Kneipe. Dieter Zimmermann, der einst Ballantines in Crankos Schublade legte, lernte 1976 Melinda Witham kennen. Sie wurde seine Frau.

Im März 1970 war John Cranko Gast im „treffpunkt foyer“ der Stuttgarter Nachrichten, dem ersten Abend der Diskussionsreihe. Das Deko-Poster von damals hängt heute am Redaktionseingang.

Okay, Mr. Cranko, bis demnächst im Büro. Und ziehen Sie diesmal Ihre Stiefel an. Es ist kälter geworden in der Stadt.



AMTLICHES

DIE STN-KOLUMNEN (die vom Samstag fehlt)

Im LESERSALON sind noch Zimmer frei

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