Bauers DepeschenMontag, 04. August 2008, 199. DepescheRECHTZEITIG vor der 200. Depesche mal was Neues - die Kurzgeschichte "Der Marlboro-Mann" erscheint in den nächsten Tagen in mehreren Folgen auf dieser Seite. Komplett wird sie im Herbst mit Beiträgen verschiedener Autoren in dem Buch "Smoke! Smoke! Smoke!" (Edition Tiamat, Berlin) veröffentlicht. Buch-Vorstellung ist am 4. November im Café des Theaters Rampe - es lesen Vincent Klink, Klaus Bittermann und meine Wenigkeit; Musik machen Los Gigantes.DER MARLBORO-MANN Von Joe Bauer TEIL 1 MARCEL WÄRE VIEL ERSPART geblieben, hätte Kallental nicht eines Tages beschlossen, ein einziges Mal in seinem Leben weniger blöd und fies zu handeln als sonst. Es hätte am Ende nicht mal Sinn gehabt, Kallental den Arsch nach vorne zu biegen. Er wusste selbst, dass es für ihn zu Ende ging. Sonst hätten sie ihn nicht frühzeitig aus dem Knast entlassen. Kallental hatte die meiste Zeit seines Lebens im Knast gesessen. Er hatte Opferstöcke aufgebrochen, gestohlene Hunde verkauft und alten Damen mitten auf der Straße den Ring von den gebrochenen Fingern gezerrt. Er hatte in den vergangenen Jahren nichts mehr dagegen gehabt, in den Knast zu gehen. Er hatte nichts Besseres zu tun. Draußen wäre er noch früher draufgegangen. Kallental war 57, er litt an Lungenkrebs und hatte nur ein Auge, seit man ihm sein rechtes bei einer Kneipenschlägerei herausgerissen hatte. Als mein Freund Marcel - seine Mutter hatte ihn nach seinem über Nacht verschwundenen Vater so getauft - mit seiner Frau Franziska und seinem Pajero in die Outlet-Metropole aufs Land aufbrach, hatte er heimlich Zigaretten eingesteckt. Vor zwei Jahren hatten die Ärzte nach seinen Klagen über schreckliches Sodbrennen eine winzige Auffälligkeit in Marcels Speiseröhre entdeckt. Von einem Karzinom war die Rede, von der Möglichkeit, es könne sich etwas Bösartiges entwickeln, falls Marcel nicht schleunigst mit dem Rauchen aufhörte. Marcel war damals 51 und rauchte drei Schachteln Marlboro am Tag. Manchmal auch mehr, wenn ihn sein Schauspielerjob am Stadttheater besonders nervte. Er spielte selten in der ersten Reihe, hatte aber dank regelmäßiger Rollen in Spielfilm- und Kabarettproduktionen der regionalen Fernsehanstalt ein stattliches Auskommen. AUF DEM AUSFLUG in die Outlet-Metropole an einem ruhigen Dienstagvormittag wollte er Franziska mit Gucci-Jacken zu verwöhnen. Es ging diesmal nur um zwei, drei Jacken. Franziska hatte einen Gucci-Jacken-Tick. Marcel wollte sich bei dieser Gelegenheit einen günstigen vanillefarbenen Boss-Anzug zulegen. Vanillefarbene Boss-Anzüge waren bei seinen Privatauftritten als Party-Unterhalter gern gesehen. Als Marcel und Franziska nach zweistündiger Fahrt in der Outlet-Metropole ankamen, war nicht viel los. Es war Mai und heiß. Marcel fand schnell einen Parkplatz. Sie hatten oft hier eingekauft, die Gucci-Halle war leicht zu finden. Als sie das Gebäude nach zehn Minuten zu Fuß erreichten hatten, blieb Franziska stehen und griff sich in die Gegend zwischen Herz und Hals, als hätte sie neuerdings selbst ein Sodbrennen-Problem. Scheiße, sagte sie, und Marcel schaute sie verwirrt an. Sie hatte in den Jahren zuvor nie Scheiße gesagt. Schon wegen der Zwillinge, die auf die Welt gekommen waren, als Franziska 30 und Marcel 42 war. Sie sagte nicht einmal Scheiße, wenn nur ihr Hund, der Pitbull Robby, zuhören konnte. Ich habe mein Portemonnaie vergessen, sagte sie. Marcel wunderte sich, weil sie ihre Gucci-Tasche umhängen hatte. In der Tasche ist das Portemonnaie nicht, sagte Franziska. Ich habe es herausgenommen, weil ich telefonieren musste. Franziskas Mobiltelefon war sehr klein, es befand sich im Portemonnaie. Es ging gar nicht um das Portemonnaie, fürs Zahlen war Marcel zuständig. Es ging um das kleine Telefon. Franziska arbeitete in einer Event-Agentur, sie organisierte Firmenfeste und Privatpartys, bei denen auch ihr Mann auftrat. In ihrem Telefon, hatte sie einmal gesagt, habe sie sogar die Mobiltelefon-Nummern von Franz Beckenbauer und Herbert Grönemeyer gespeichert. Ohne diese Nummern war sie verloren. MARCEL versuchte sich zu beherrschen. O, sagte er, kein Problem, schöne Frau, ich werde das Portemonnaie holen. Bevor sie antworten konnte, zog er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und drehte um in Richtung Pajero. Sie solle warten, sagte er, er werde sich beeilen. Kaum war er um die nächste Ecke gebogen, holte er tief Luft und zog eine Marlboro aus der Marlboro-Box. Er zündete sich mit seinem silbernen Dupont eine an. Das Dupont war mit einem M graviert, er trage es als Talisman bei sich, pflegte er zu sagen. Als er den Rauch in seine Lunge sog und auf die Spitzen seiner braunen Rindslederstiefel von Tony Mora schaute, fühlte er, dass der Tod noch auf sich warten ließ. Man würde von ihm, Marcel, vielleicht noch reden, wenn Gucci schon bankrott war. Wenn auch erst dann. Den Rauchgeruch - Franziska hätte Zigarettenmief gesagt - würde er nachher wie gewohnt mit etwas Mundspray und einem Tropfen Cerruti aus einem Probefläschchen in seiner Hosentasche überdecken. Er rauchte die Zigarette hastig, die zwei Minuten, die er sich, bewegungslos inhalierend, gönnte, würde er auf dem Rückweg wieder wettmachen. Er fuhr bei Promi-Radrennen manchmal hundertzwanzig Kilometer am Tag. Ohne seine heimlichen Zigaretten, davon war er überzeugt, wäre das nicht zu schaffen. Als Marcel den Pajero erreichte, bemerkte er es erst, als er die Fahrertür geöffnet hatte. Die Scheibe neben dem Beifahrersitz war eingeschlagen. Der Kerl musste brutal zugeschlagen haben. (Teil 2 heute um Mitternacht) Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten: www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer - Nächster Flaneursalon am Dienstag, 19. August, beim Zeltfestival in Ditzingen. Mit Los Gigantes, Dacia Bridges & Alex Scholpp. 20 Uhr. Siehe Termine. „Kontakt“ |
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