Bauers Depeschen


Mittwoch, 19. Februar 2020, 2178. Depesche



 



ACHTUNG, REAKTION

AUF DEN RECHTEN TERRORANSCHLAG

Nach Hanau - HEUTE, DONNERSTAG: 18 UHR, SCHLOSSPLATZ: Wir treffen uns. Trauer, Wut. Zeichen der Solidarität. Schützt die Menschen vor Rassisten. Bitte teilen.

Einige Initiativen schließen sich bereits an, z. B. Defend Rojava Plattform.



FLANEURSALON IN CANNSTATT

Zum dritten Mal ist der Flaneursalon auf Einladung im Stuttgarter Stadtarchiv, das in der Bellingstraße in Cannstatt (Veielviertel) beheimatet ist. Diese Institution, in einem schönen historischen Backsteingebäude gegenüber der Kulturinsel untergebracht, nennt man das „Gedächtnis der Stadt“. Dort ist zurzeit die Ausstellung „Heimat Kickers – die Blauen in bewegten Zeiten“ zu sehen. Das Fanprojekt des Vereins hat die Dokumentation über die Ära der Stuttgarter Kickers von 1899 bis 1949 erarbeitet. Wir können uns beim - für mich stets grenzwertigen - Thema „Tradition“ über den legendären „100-Tore-Sturm“ der Blauen unterhalten. Wir können aber auch darüber reden, dass die 1936 im Spanischen Bürgerkrieg gefallene Fotokünstlerin und Kriegsreporterin Gerda Taro in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Spiele der Kickers besuchte. Am 1. August dieses Jahres steht ihr 110. Geburtstag an. Selbstverständlich machen wir in Cannstatt keinen Themenabend, sondern eine wie immer bunt gemischte Lieder- und Geschichtenshow. Mit, äh, Humor.

Zu den Gästen gehört zum zweiten Mal Dietrich Krauß, der mit Claus von Wagner und Max Uthoff die Texte und Szenen der großartigen ZDF-Satireshow „Die Anstalt“ schreibt. Dietrich war als junger Kerl selbst mal Kabarettist – im Flaneursalon tritt er wieder live auf, wie jetzt erstmals bei uns sein Freund Bernd Sautter, ein bühnenerfahrener Autor, der den Fußball originell von unten betrachtet.

Und wir haben wieder großartige Musik. Die amerikanische Sängerin Eva Leticia Padilla wird von Stefan Brixel (g) und Dany Lambada Martinez (g, perc) begleitet. Und das Trio Gadjo tritt mit der Sängerin Katalin Horvath, dem Gitarristen Frank Wekenmann und dem Staatsorchester-Geiger Sebastian Mare auf. Insgesamt sind wir also neun Mitwirkende, für Sound und Licht bringen wir wieder den großartigen Bühnentechniker Stefan Hees mit – und das Ganze für einen Eintrittspreis von 15 Euro plus Vorverkaufsgebühren. Für dieses Geld sieht man in Kleinkunstbühnen wie Renitenztheater oder Rosenau nicht mal einen Solo-Comedian (der keinerlei technischen Aufwand hat). Hinzufügen muss ich, dass im Flaneursalon - mit Ausnahme von mir - nur professionelle Künstler auftreten. Wäre natürlich schön, wenn wir den Stadtarchiv-Saal mit seinen 200 Plätzen füllen könnten. Damit die Kinder unserer Mamas & Papas ihre Bio-Milch kriegen. Hier geht es zum Vorverkauf: KARTEN FLANEURSALON



UND HIER NOCH was SPEZIELLES:

BAUER & HISS unter einem Hut. Siehe HAUS DER GESCHICHTE, VORVERKAUF



HÖRT DIE SIGNALE:

DAS LIED ZUM TAG





Aus meinen Beständen

RECHT UND FREIHEIT

Oft bestimmt das Wetter die Wege des launischen Spaziergängers: Alles nimmt zufällig seinen Lauf, und da war dieser schöne Sonntag im Oktober, als sich der Sommer vermutlich zum letzten Mal in diesem Jahr gegen die Schatten des Herbsts zu wehren. Morgens im Trab durch den Dachswald, wo sich das Sonnenlicht in den Baumkronen bricht wie im Film. Am Nachmittag vom Charlottenplatz zur Staatsgalerie-Ausstellung „Francis Bacon. Unsichtbare Räume“, wo du das Licht der Welt mit neuen Augen siehst.

Hätte nicht, wie gesagt, der Indianersommer die Stadt ausgeleuchtet, wäre ich auf dem schnellsten Weg im grasgrün schillernden Museumsbauch verschwunden. So hätte ich neben der Wucht der Bilder nur ein kleines Souvenir in Erinnerung: Im Museumsshop hatte ich mir ein Reinigungstuch mit dem aufgedruckten Zitat des Dichters Lord Byron gekauft: „Ein Esel wird auch in Paris kein Pferd.“

Mylord, sagte ich zu Herrn Byron, Ihr Satz gefällt mir vortrefflich. Sie gestatten, dass ich ihn mit Blick auf die vielen armen Seelen in meiner Heimat etwas zurechtfeile: „Auch ein Pferd wird in Stuttgart leicht zum Esel.“

Das Wetter hatte meinen Ritt zur Staatsgalerie auf Umwege gelenkt: Vor dem Bacon-Besuch ging ich eine ganze ­Weile im Justizviertel herum, weil auch ich noch eine Portion haben wollte von der letzten Sonne. Vermutlich aber ist es nicht die beste Idee, sich zwischen den ­Gerichtsgebäuden an den Restbeständen des ­Sommers zu wärmen. Seit Jahren habe ich einen ­subversiv an die Wand gekritzelten Spruch vor Augen, den ich mal bei einer Landgerichtsbesichtigung in einer alten Zelle gesehen hatte: „Es lebe hoch das deutsche Recht / Wem’s widerfährt, dem geht es schlecht.“

Vor dem Landgericht steht man vor dem 1953 angebrachten Hochrelief „Der Schwur“ mit den Figuren, die das Volk repräsentieren sollen: Handwerker, Arbeiter, Mutter mit Kind, Bauer, Soldat etc. – alle nur dürftig bekleidet. Über diesen armen Schweinen schwebt das Schwurgericht: drei Richter, gestaltet nach den realen Profilen von Robert Perlen (damals Oberlandesgerichtspräsident), Josef ­Beyerle (Justizminister) und Reinhold Maier (Baden-Württembergs erster Ministerpräsident, FDP, der 1933 wie sein Parteifreund Theodor Heuss für Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte). Über diesem fragwürdigen Personenkult schwebt Justitia neben der Sonne, die angeblich bis heute alles an den Tag bringt, auch wenn die gar nicht scheint. Und unter allem die Inschrift: „Gesetz und Recht und Freiheit“. Man möchte hinzufügen: Und viel Glück beim Kampf um Gerechtigkeit!

Auf dem Gerichtsvorplatz erhebt sich auch die sogenannte Verfassungssäule mit der Genius-Figur, die auf eine Schlange tritt. Eingemeißelt in diesen steinernen Pfeiler ist der Artikel 1 der baden-württembergischen Verfassung, ein Paragraf, der jeden weltoffenen Menschen mit Anspruch auf „Recht und Freiheit“ stutzig machen muss: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.“

Was das „christliche Sittengesetz“ bei der Säulenaufstellung im reaktionären Nachkriegsmief wert war, haben wir erst neulich – ausnahmsweise mal offiziell – aus der Studie über die Nazi-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums erfahren: 77 Prozent der leitenden Beamten nach dem Krieg waren ehemalige NSDAP-Mitglieder, darunter zahlreiche Schreibtischtäter, die den Holocaust mit zu verantworten hatten. Nach 1949 stieg die Zahl der ehemaligen Nazis im Justizministerium sogar noch einmal deutlich. Diese Fakten lieferten allen halbwegs Aufgeklärten zwar nichts Neues, doch weil frisch veröffentlich, verändert sie meine Sicht auf das Gerichtsgebäude: Auch am schönsten Herbsttag kommen dir dunkle Gedanken.

Wie erbärmlich die Stuttgarter Justiz mit ihrer Vergangenheit umging und umgeht, merkt der Spaziergänger, wenn er die Augen aufmacht und sich nebenbei ein wenig erkundigt nach den Verbrechen dieser „furchtbaren Juristen“ – wie sie Rolf Hochhuth nach seinen Enthüllungen über den ehemaligen Nazi-Marinerichter und Ministerpräsidenten Hans Filbinger 1978 genannt hat. Wo in Stuttgart zwischen 1933 und 1944 mehr als 450 Menschen mit dem Fallbeil ermordet wurden, im sogenannten Lichthof des früheren Gerichtsgebäudes, findet man heute nicht etwa einen Ort des Gedenkens und der Aufklärung, sondern einen Parkplatz für die Justiz-Mitarbeiter.

Im „Sondergericht Stuttgart“ saßen einst berüchtigte Nazi-Juristen. Ihre Hinrichtungsstätte gehörte zu den drei größten des Dritten Reichs. Alle paar Wochen kam der Scharfrichter nach Stuttgart und brachte morgens zwischen fünf Uhr und sieben Uhr im Schnitt 20 Menschen mit dem Fallbeil um; einmal, am 1. Juni 1943, waren es 34.

Erst 1994 – sage und schreibe ein halbes Jahrhundert nach den Gräueltaten – ließ man an der roten Sandsteinmauer neben der Treppe zum Vorplatz eine Inschrift anbringen: „Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken. Hunderte wurden hier im Innenhof hingerichtet. Den Lebenden zur Mahnung!“ Diese „Mahnung“ ist für die Lebenden nichts anderes als Heuchelei und der Toten nicht würdig: Selbst diese bürokratisch, ohne jede historische Präzision und ohne jedes Mitgefühl für die Ermordeten formulierte Zeile haben die Politiker – man kann es nicht anders deuten – mit Absicht vor den Passanten versteckt.

Dieser Umgang mit der Geschichte trägt heute faule Früchte. Und dunkle Gedanken kommen dem Spaziergänger nicht nur im Justizviertel. Es reichen auch ein paar Schritte zum Landtag, wo in großer Zahl die völkischen Nationalisten im Parlament sitzen. Und es muss schon ein Esel sein, der die historischen Zusammenhänge zwischen gestern undheute so wenig sehen will wie die Wahrheit hinter einer scheinheiligen Inschrift an der Sandsteinmauer der Stuttgarter Justiz.

 

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