Bauers Depeschen


Samstag, 18. Juli 2015, 1494. Depesche



 



Nächster FLANEURSALON live am Sonntag, 18. Oktober, im Theaterhaus. Mit der Buch-Vorstellung: "In Stiefeln durch Stuttgart". Durch den Abend führt Christine Prayon. Vorverkauf hat begonnen.



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LIED DES TAGES



ZUM 2. SCHMUDDEL-BANKETT am heutigen Samstag in der Leonhardstraße:

Start: 14 Uhr – Bewirtung, Musik.

Der Spaziergang durchs Leonhardsviertel mit historischen und aktuellen Erläuterungen der Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle wird so früh wie möglich nach Veranstaltungsbeginn stattfinden - abhängig vom Gesamtbesuch. - Unsereins hält eine kleine Rede zur Altstadt, Peter Grohmann präsentiert eine kabarettistischen Nummer, u. a. zur Eröffnung des Clubs Voltaire vor 50 Jahren. Beide Wortbeiträge gibt es - je nach Besuch und Wetter (!) - vor 16 Uhr.

Musik machen die Band Anjabelle (Anja Binder, JP Abele, Marquis), das Trio Steve Bimamisa, Maik Pinto & David Presna – und der Saxofonist Waldo Weathers.





Meine Bergrüßungsrede beim Schmuddel-Bankett:



SCHÖNEN GUTEN TAG, liebe Gäste, im Leonhardsviertel, in der Altstadt, im Stuttgarter Städtle.

meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie bei unserem 2. Schmuddel-Bankett, dem sponsorenfreien Straßenfest zu Ehren eines Stadtquartiers, in dem es noch andere Dinge gibt als Elend und Prostitution. Hier in diesem Viertel wohnen und arbeiten Menschen, die stolz sind auf ihren kleinen Kiez, den sie lieben und verteidigen.

Mehr als ein Jahr ist seit unseren ersten Schmuddel-Spielen vergangen, und wenn wir fragen, was hat sich inzwischen verändert hat, dann lautet die Antwort: Das Leonhardsviertel ist ein politisches Thema geworden, wir haben Aufmerksamkeit erzielt, und das ist besser als nichts. Allerdings sind wir nicht so naiv zu denken, es habe sich in der Praxis viel verändert, nur weil der Oberbürgermeister hin und wieder mit einem sogenannten Masterplan etwas Wirbel in der Presse macht.

Meine Damen und Herren, wir tagen heute hier im historischen Kern der Stadt, in der früheren Leonhardsvorstadt, im Zentrum von Alt-Stuttgart, in der vergessenen City. Ich denke, diese Kulisse hier, und alle die gekommen sind, die uns helfen, haben unseren Applaus verdient.

Wenn die Rathaus-Politiker über die Huren und die Freier diskutieren und Verlautbarungen hinausposaunen, erwähnen sie nicht mal ansatzweise das jahrzehntelange stadtplanerisches Versagen im Leonhardsviertel. Dann kommen unfreiwillig komische Sätze wie der des Ordnungsbürgermeisters: „Wir müssen die Abwärtsspirale der Prostitution stoppen.“ Dabei muss man wissen, dass im Rathaus oft genug Leute über Dinge reden und entscheiden, die sie gar nicht kennen. Viele von ihnen waren nie hier / in diesem Revier, obwohl es nur einen Steinwurf vom Rathaus entfernt ist.

Es sind nicht nur irgendwelche Schicksalsschläge, es sind Politiker und Behörden, meine Damen und Herren, die Menschen die Würde nehmen, indem sie diesen Kiez hier verkommen lassen und ihre eigene Stadtgeschichte ignorieren. Den Rathaus-Strategen fällt zur Rettung des Leonhardsviertels nicht Besseres als neue, geradezu hirnrissige Gastronomie-Reglementierungen – so läppisch und realitätsfremd wie die medizinische Überwachung der Huren und die Kondompflicht für Freier. Wenn die Beamten in Zukunft die Einhaltung ihres Gummi-Paragrafen kontrollieren, sollten sie sich eine alte schwäbische Weisheit zu Herzen nehmen. „Man steckt halt net drin.“

Die Elendsprostitution in der Altstadt kann ja auch deshalb stattfinden, weil die Verweigerung einer vernünftigen Stadtplanung den Nährboden für dieses Elend bereitet hat. Schon in den achtziger Jahren hat der OB Rommel verfügt, das Leonhardsviertel „auszutrocknen“ – und in Wahrheit hat die Stadtverwaltung lange Zeit Zuhälterei und Menschenhandel mit ominösen Immobilienverkäufen unterstützt. Im Übrigen erzählt uns diese Art der schlimmsten Hungerlohn-Prostitution mit ausschließlich ausländischen Frauen durchaus auch etwas über die Politik in Europa.

Ein sozial angeschlagenes Revier saniert man nicht mit Verordnungen. Es ist eine alte Erfahrung: Man kann zur Befriedung eines sozialen Brennpunkts in der Bronx Armeen von Polizisten schicken – oder aber ein Museum bauen. Mit dem Museum hat man bessere Erfahrungen gemacht. Nun sind wir hier nicht in der Bronx. Aber auch im kleinen Leonhardsviertel gibt es Möglichkeiten, die Gegend kulturell aufzuwerten. Dazu brauchen wir kein Museum, man kann beispielsweise das Siegle-Haus wieder bespielen. Und je mehr hier los ist, desto defensiver verhalten sich die Freier mit ihren merkwürdigen Neigungen.

Wichtig ist im Leonhardsviertel, eine Mischung aus Milieu-Schuppen und seriösen Bars herzustellen. Noch vor 15 Jahren gab es hier Geschäfte und Handwerksbetriebe und ein gutes nachbarschaftliches Leben mitten im Milieu. Auch heute gibt es attraktive Orte, die mehr Publikum vertragen könnten. Dazu müssen die Bürger mehr von diesem Viertel kennen als unsinnige Gerüchte über Gewalt, Wahn und Untergang. Es gibt liebenswerte Dinge im Viertel. Sie kennen die Plätze. Den Bix Jazzclub, den Live-Club Kiste, die originelle Jakob-Stube, die gewitzte Uhu-Bar, die schicke Bar Fou Fou. Oder die relativ neue Bar Paul & George in der Weberstraße, ein Musterbeispiel dafür, wie man eine Kneipe mit Respekt vor der Umgebung gestalten kann. Dann haben wir das erstklassige Restaurant Fröhlich, den Brunnenwirt mit seinem Imbiss und seiner reellen schwäbischen Küche, den Murrhardter Hof, den lustigen und bunten Metzer-Imbiss Ergenzinger. Und bald eröffnen die Wirte des ehemaligen Libero an der Haupstätter Straße ihre neue Kneipe. Das Siegle-Haus dagegen, wo einst Bands wie AC/DC auftraten, ist ein totes Gemäuer.

Kommen wir zu einem aktuellen Fall: Nach vier Jahren am Leonhardsplatz, neben dem Brunnenwirt, gibt das Plattencafé Ratzer Records seinen Laden auf und zieht im Oktober an den Marienplatz um. Der Grund: Die Räume, die die Ratzers von der Stadt gemietet haben, sind definitiv zu teuer. Was danach kommt, wissen wir nicht.

Und da sind wir an einem sehr wichtigen Punkt: Wenn die Stadtverwaltung einem sogenannten sozialen Brennpunkt helfen will, dann kann sie nicht mit den üblichen Bürokraten-Scheuklappen Dienst nach Vorschrift machen.

Dann darf sie die Mietpreise nicht nach üblichen Maßstäben festlegen.

Dann muss die Politik über ihren Profit-Schatten springen und sagen: Ein Tausender weniger Miete in einem solchen Viertel ist im Haushalt einer immer noch reichen Stadt nicht mal Peanuts, wenn dafür ein sympathischer Ort entsteht und gute Leute anlockt.

Und da sind wir bei einem politischen Grundübel: Zu wenige Rathauspolitiker begreifen, dass es günstige Freiräume braucht in einer sogenannten Großstadt, Freiräume für belebende Läden, für Studios und Ateliers für Musiker, für Künstler aller Art. Solche Räume müssen bezahlbar sein, und deshalb ist es grober Unfug, übliche Mieten für städtische Räume wie hier in der Altstadt zu verlangen. Würden die Politiker mal nachdenken, statt auf ihren Smartphones herumzuspielen, würden sie womöglich begreifen: Die niedrigere Miete rechnet sich, wenn Leute aus diesen kleinen Immobilien etwas atmosphärisch Schönes machen. Und etwas anderes bieten als den Konsumschrott der Konzernketten, mit dem inzwischen die ganze Stadt zugestellt wird.

Im Leonhardsviertel gibt es außerdem seltene historische Bausubstanz, Architektur, die bis ins Barockzeitalter zurückreicht und geschützt werden muss. Diese Gegend kennt nicht nur amüsante Geschichten wie die des legendären Würstles-Jürgen, der am Brunnenwirt aufmüpfige Kundschaft mit den Worten beruhigte: „Benehmen Sie sich. Die Herren in diesem Viertel sind nicht sehr diskussionsfreudig.“

In diesem Viertel gibt es auch eine Geschichte des demokratischen Widerstands. Vor 500 Jahren ließ der Herzog Ulrich drüben auf dem Wilhelmsplatz dem Stuttgarter Bauernkrieger Legelin-Jörg und dessen Freunden den Kopf abhacken, weil sie geplant hatten, den Aufständischen vom Armen Konrad die Stadttore zu öffnen. - Gleich hier um die Ecke in der Jakobstraße 6, im Haus der Jakobstube, wurde 1807 der Historiker, Dichter, Pfarrer und demokratische Abgeordnete Wilhelm Zimmermann geboren. Und hier in der Leonhardstraße 8 wurde vor 50 Jahren der Club Voltaire eröffnet. Er war sechs Jahre lang demokratisches Zentrum von Arbeitern, bürgerlichen Intellektuellen, Künstlern und kritischen Charakterköpfen. Peter Grohmann wird dazu noch was sagen.

Meine Damen und Herren, die kleine Bürgerinitiative Unsere Altstadt hat sich zusammengetan, um das Leonhardsviertel ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Um für einen fairen Umgang mit diesem Quartier zu plädieren – und ein kleines Stück Heimat neu zu beleben.

Die Gefahr ist groß, dass irgendwann die Bagger der Investoren kommen. Dann werden hier unbezahlbare Wohnungen und überflüssige Büros gebaut, und das Ganze heißt dann nicht mehr Städtle, sondern Leonhardshöfe.

Liebe Gäste, Männer, Frauen und sonstige Vögel hier auf dem kleinsten städtischen Strich der Welt, wir wünschen Ihnen, wir wünschen euch einen erregenden Nachmittag im schönsten Schmuddel der Stadt. Wir wünschen euch einen coolen Sommertag mit gutem Essen, mit aufschlussreichen Gesprächen, mit bewegender Musik von unseren großartigen Künstlern, die ohne erwähnenswerte Gage spielen.

In diesem Sinne: Wir lassen uns den Spaß in diesem Viertel nicht verderben. Lang lebe das Leonhardsviertel! Lang lebe die Altstadt!

 



 

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